In Kontakt bleiben, zum Nachdenken anregen – das ist unsere Aufgabe.
Florian Endres, Leiter der Beratungsstelle Radikalisierung, erläutert die Arbeit der Beratungsstelle und aktuelle Tendenzen:
Als zentrale Anlaufstelle kooperiert die Beratungsstelle Radikalisierung in einem zivilgesellschaftlichen Netzwerk mit Beratungsstellen vor Ort, die persönlichen Kontakt zu den ratsuchenden Jugendlichen, den Eltern oder Betreuenden aufnehmen. Der Trend zur Radikalisierung ist nach wie vor hoch. In 25 bis 30 Fällen im Monat wird das Netzwerk durch die Beratungsstelle aktiviert.
Die Beraterinnen und Berater helfen, wenn Jugendliche in die islamistische Szene abdriften. Zum Teil geht es um junge Männer und Frauen, die nach Syrien oder in den Irak ausreisen wollen oder sogar schon ausgereist sind. Solche sicherheitsrelevanten Konstellationen haben besonders seit 2013 mit der damals einsetzenden Ausreisedynamik innerhalb des jihadistisch-salafistischen Spektrums deutlich zugenommen. Für alle Ratsuchenden ist der gesamte Beratungsprozess vertraulich. Werden allerdings sicherheitsrelevante Aspekte bekannt, werden die Beratungsnehmenden darauf hingewiesen, dass die Einbindung einer Sicherheitsbehörde – etwa bei Terrorismusverdacht oder bei Ausreiseplänen in ein jihadistisches Kampfgebiet – unumgänglich ist.
Die meisten Anrufe bei der Beratungsstelle Radikalisierung kommen aus dem nahen familiären Umfeld der Radikalisierten. Mütter sind häufig diejenigen, die sich Hilfe durch eine konkrete Beratung einholen. Aber auch Väter oder Großeltern wenden sich mit ihren Problemen an die Beratungsstelle des Bundesamtes.
Inzwischen melden sich fast täglich auch Lehrkräfte, Sozialarbeiter aus Einrichtungen der Flüchtlingshilfe oder von Arbeitgebern. Bestätigen sich im Erstgespräch Indizien für Radikalisierungsprozesse, erhalten auch diese Anrufer die Unterstützung durch Experten vor Ort. Voraussetzung: Es handelt sich um eine Beratung mit konkretem Einzelfallbezug. In vielen Fällen lassen sich aber auch Fortbildungen und Workshops zum Thema arrangieren. Im Zweifelsfall hilft immer eine Anfrage an der Hotline weiter.
Wer ist gefährdet?
Die Beratungsstelle Radikalisierung verzeichnete im gesamten Netzwerk seit 2012 bundesweit 1.200 Fälle. Bei 70 Fällen, die an das Beratungsnetzwerk weitergegeben wurden, haben sich hauptsächlich Jugendämter oder Jugendhilfeeinrichtungen an die Beratungsstelle gewandt und Radikalisierungstendenzen bei von Ihnen betreuten Unbegleiteten Minderjährigen geschildert.
Im Schnitt sind die Jugendlichen, die sich radikalen Salafisten anschließen, 18 bis 19 Jahre alt. In etwas mehr als einem Viertel der Fälle sind es Mädchen, auch hier ist die Tendenz steigend.
Die Jugendlichen stammen nicht nur aus Familien mit ausländischen Wurzeln oder islamischem Glauben. Personen mit Migrationshintergrund machen etwa 45 bis 50 Prozent aus. Bei Unbegleiteten Minderjährigen kann aufgrund ihrer (Flucht-)Situation ein weiterer möglicher Radikalisierungsfaktor hinzukommen.
Insgesamt ist es jedoch ein "gesamtgesellschaftliches Phänomen", bei dem der Akademiker-Haushalt genauso betroffen sei wie die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern. In vielen Familien hat die Religion gar keine zentrale Rolle gespielt.
Das gesamtgesellschaftliche Phänomen der islamistisch motivierten Radikalisierung ist auch nur gesamtgesellschaftlich zu lösen. Integration, Prävention und konsequentes Handeln schließen sich nicht aus. Alle müssen am gleichen Strang ziehen: Schulen, Unis, Integrationsstellen, Polizei und Nachrichtendienste. Sobald man Radikalisierungstendenzen erkennt, gilt es, zielgerichtet und schnell zu reagieren. Dann kann man beispielsweise auch die Ausreise von Jugendlichen nach Syrien oder den Irak verhindern.
Hervorhebung als Tipp: Drei Ebenen
Häufigste Frage: Was sind Anzeichen einer Radikalisierung
Radikalisierungsprozesse verlaufen immer individuell. Anzeichen einer Radikalisierung sind, wenn sich beispielsweise der Internetkonsum oder die Religiosität des Jugendlichen drastisch verändern. Ein Beispiel: Wenn ein Jugendlicher, der vorher nie sehr religiös war, seine Religion plötzlich als das Nonplusultra darstellt; wenn er sich über Muslime und andere Religionen, die seine Einstellungen nicht teilen, abfällig äußert und "Ungläubige" abwertet; wenn er versucht, andere zu missionieren; wenn er plötzlich Wertvorstellungen vertritt, die unseren freiheitlich demokratischen Werten widersprechen; wenn er salafistische oder jihadistische Propaganda-Videos im Internet konsumiert; wenn sich sein Surfverhalten verändert, dann sollten Eltern oder Betreuer schnell abklären: Ist das eine neu entdeckte Religiosität oder schon Radikalisierung?
Dann können Brüche in der Biografie der Auslöser für einen Radikalisierungsprozess sein: der Tod eines Angehörigen oder Freundes, die Trennung der Eltern, schulische Probleme, Jobverlust, Diskriminierung oder zerbrochene Beziehungen. Diese Erfahrungen machen die Menschen anfällig für radikale Ideologien. Die salafistische Ideologie ist einfach und schnell: "Wir bieten dir jetzt den Ausweg aus deiner Situation. Kremple dein Leben nach unseren Lehren um, dann geht es dir besser."
Die These der Blitz- oder Turboradikalisierung ist sehr umstritten. Dennoch ist zu beobachten, dass Radikalisierungsprozesse immer schneller vonstattengehen – bei Jungs, als auch bei Mädchen. Viele beschäftigen sich überhaupt nicht mehr mit dem Islam als Religion, sondern konvertieren sofort zum Salafismus. Es gibt Fälle, da beschließen Jugendliche innerhalb weniger Wochen: "Ich will nach Syrien oder in den Irak und dort für den IS kämpfen."
Dieses Phänomen nimmt zu, so auch die Erfahrung von Sicherheitsbehörden.
Hervorhebung als Tipp: Persönliche Krisen
Das Gespräch suchen
Für die Arbeit vor Ort haben die Kooperationspartner unter anderem Pädagogen und Islamwissenschaftler. Wichtig ist häufig die klassische sozialpädagogische Arbeit, ein Familiencoaching und das persönliche Umfeld der Jugendlichen zu beleuchten. Dies kann den Radikalisierungsprozess stoppen.
Die Beraterinnen und Berater versuchen mit den Kooperationspartnern immer Akteure zu finden, die einen positiven Einfluss auf die Betroffenen haben. In einigen Fällen spricht der Beratende mit dem Jugendlichen über sein Religionsverständnis. Denn meist haben radikalisierte Jugendliche in ihrem familiären Umfeld wenig über Religion erfahren. Ihr religöses Wissen oder das Wissen über den Islam ist rudimentär. So sind sie auch nicht in der Lage, salafistische Thesen kritisch zu hinterfragen. Ein gewisses Verständnis des Islam ist für die Arbeit der Beratungsstelle wichtig, da die Beratenden die salafistische Ideologie nur durchbrechen können, wenn sie mit den Jugendlichen diskutieren können.
Wir haben es schon geschafft, Jugendliche zu de-radikalisieren, die nun wieder ein ganz normales Leben führen, obwohl sie in Syrien vom IS beeinflusst wurden. Wichtig ist, ein großes Netzwerk aus Familie und Freunden um sie zu spinnen und ihr kritisches Denken über die eigene Situation zu aktivieren. Der Pfad der Radikalisierung geht nicht steil nach oben. Meist fragen sich die Jugendlichen selbst immer wieder: "Bin ich noch auf dem richtigen Weg?"
Spätestens wenn sie in Syrien in Kampfhandlungen verwickelt sind oder ein mutmaßlicher Spion vor ihren Augen enthauptet wird, denken einige: "Ich bin hier im falschen Film."
Wenn man erkennt, dass radikalisierte Jugendliche zweifeln, dann muss man sofort versuchen, an sie heranzukommen. Dafür müssen die Beratenden im Gespräch mit dem Jugendlichen bleiben und fragen: "Was bewegt ihn? Was sucht er bei einem islamistischen Prediger?"
In Kontakt bleiben, Interesse zeigen, zum Nachdenken anregen – das ist unsere Aufgabe. Wenn sie erst einmal in dem Prozess des Nachdenkens sind, dann kriegt man sie auch. Dann können Gegenargumente greifen und eine emotionale Bindung und die Beziehung zu ihrem alten Umfeld wiederaufbauen, die sie meist abgebrochen hatten.
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