Jahresrückblick 2021 , Datum: 30.12.2021, Format: Dossier, Bereich: Behörde

Chance für ein lebendiges jüdisches Leben in Deutschland , Datum: 11.11.2021, Format: Meldung, Bereich: Integration

Die Religionswissenschaftlerin Dr. Inna Feigina hat sich im Rahmen ihrer Doktorarbeit an der Universität Leipzig mit dem Thema: "Religion und Veränderung: Jüdische Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion" befasst. Die 35-Jährige stammt selbst aus Kirgistan und arbeitet nun im jüdischen Frauenverein BeReshith, einem Netzwerk Jüdischer Frauen in Sachsen-Anhalt als Leiterin des Projekts "WIR – Werte, Identität, Rollen im Zeitalter der Migration". Im BAMF-Interview spricht sie über die Chancen und Herausforderungen von Juden und Jüdinnen mit sowjetischem Migrationshintergrund sowohl in der deutschen Gesellschaft als auch in den jüdischen Gemeinden.

Dr. Inna Feigina Quelle: privat

Sie haben Ihre Doktorarbeit geschrieben zum Thema: Religion und Veränderung: Jüdische Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion. Warum haben Sie sich ausgerechnet diesem Thema angenommen?

Obwohl ich selbst Jüdin und Religionswissenschaftlerin bin, habe ich mich erst mit dem Thema näher befasst, als ich nach Deutschland gekommen bin. Die jüdische Gemeindeentwicklung, die ich persönlich erleben durfte, hat mein Interesse geweckt. Ich habe verstanden, dass die Gemeinden hier, anders als in der ehemaligen Sowjetunion, keine kulturellen Vereine oder Wohlfahrtszentren sind, sondern vor allem einen religiösen Schwerpunkt haben.
So kam ich durch meine persönlichen Beobachtungen zum Thema meiner Dissertation.

Warum war es aus Ihrer Sicht wichtig, dass die jüdische Immigration in den 1990er Jahren nach Deutschland begonnen hat?

In den 1990er Jahren – vor der Zuwanderung – zählten die jüdischen Gemeinden deutschlandweit insgesamt nur 30.000 Mitglieder. In der Leipziger Gemeinde gab es beispielsweise 1991 genau 34 Jüdinnen und Juden. Die Altersstruktur war allgemein so angelegt, dass ihnen in einer gewissen Zeit eine Überalterung und letztendlich ein Aussterben drohte. Die jüdischen Einwanderinnen und Einwanderer konnten dem entgegenwirken. Sie sorgten für eine Wiederbelebung des jüdischen Lebens in Deutschland und eine Chance. Neue Synagogen wurden gebaut, etwa in Chemnitz oder in Mainz. Gemeinden entwickelten eine breite Palette an Aktivitäten und Einrichtungen. Es gibt jüdische Kindergärten, koschere Lebensmittelläden und Restaurants. Die Zuwanderung hat das jüdische Gemeindeleben stark verändert.

Was waren und sind die Beweggründe für Menschen jüdischer Abstammung aus der Sowjetunion nach Deutschland auszuwandern?

Es gibt Studien, dass Migrantinnen und Migranten aus den 1990er Jahren wegen der Instabilität ihrer Länder und des Antisemitismus sich für eine Auswanderung entschieden haben. Es gab schon vor dem Ende der Sowjetunion große wirtschaftliche Schwierigkeiten und Unsicherheit. Bereits Ende der 1980er Jahre kamen viele Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion in die DDR. Und die Lage hat sich auch unmittelbar nach dem Ende der Sowjetunion in ihrer Heimat nicht geändert. Nach der Wende wurde die Aufnahme jüdischer Zuwanderinnen und Zuwanderer in Deutschland weitergeführt. 1991 beschloss die Ministerpräsidentenkonferenz das "Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommenen Flüchtlinge", das sogenannte Kontingentflüchtlingsgesetz.
Im Laufe der Jahre haben sich die Push und Pull-Faktoren geändert. Der Wunsch, den eigenen Lebensstandard zu erhöhen spielt mittlerweile eine größere Rolle. Aber auch die Möglichkeit, frei als Jüdin oder Jude in einem demokratischen Land zu leben. Dass sie sich Europa verbunden fühlen, hält viele Ausreisewillige davon ab, etwa in die USA zu gehen. Sie empfinden sich als Europäer.
Heute sind florierende jüdische Gemeinden die Folge der Zuwanderung.

Was bedeutet die Immigration für das jüdischen Leben in Deutschland im Allgemeinen?

Deutschland hat nicht zuletzt aufgrund seiner Geschichte eine Verantwortung übernommen für das jüdische Leben in Deutschland. Und so war es natürlich auch für den Staat eine Chance, das jüdische Leben in Deutschland zu erhalten - und sicherzustellen, dass die jüdischen Gemeinden weiter bestehen können.
Die größte Herausforderung ist hierbei die Integration und die Ermöglichung der gesellschaftlichen Teilhabe der Zugewanderten. Dies kann nur geschehen in guter Zusammenarbeit des Staates mit den Gemeinden und den zugewanderten Menschen selbst.
Für diese gilt es, eine neue Sprache zu lernen, berufliche Perspektiven zu finden – und ihre eigene Identität. Denn sie leben mit sogenannte Teilidentitäten – der ihrer Heimatländer, der jüdischen Identität sowie der deutschen. Es ist sehr komplex.
Und auch bei der jüdischen Identität gibt es ein unterschiedliches Verständnis von jüdisch sein. Vor allem die Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sehen sich in einer ethnischen Zugehörigkeit, nicht in einer Religiösen. Viele finden sich aber auch in beidem wieder.

Welche Rolle hat und hatten die Gemeinden bei der Integration der Zuwanderinnen und Zuwanderer?

Die Gemeinden hatten eine große Last zu tragen. Vielfach war die Infrastruktur für die vielen Menschen anfangs nicht vorhanden. Aber sie haben gut reagiert und einige soziale Angebote und Bildungsmöglichkeiten auf die Beine gestellt. Eine große Rolle spielte für sie auch, dass sich die Hinzugekommenen als Teil einer Gruppe gefühlt haben – und das war zugleich Teil der Integration in Deutschland. Natürlich haben nicht alle Menschen, die aus der Sowjetunion im Rahmen der jüdischen Zuwanderung kamen, in den Gemeinden Fuß gefasst. Jede und jeder entscheidet für sich selbst. Und selbstverständlich gab es Anfangsschwierigkeiten – etwa die Bedenken alteingesessener Mitglieder, dass sie zu einer Minderheit in ihrer Gemeinde werden könnten. Aber ich denke, inzwischen haben sich alle angepasst.

Bei der Wissensvermittlung über das Jüdisch sein an sich machen sich zeitliche Veränderungen bemerkbar. Menschen, die in den 1990er Jahren kamen, berichten davon, dass sie wenige Kenntnisse über das Judentum hatten. Die Menschen die ab den 2000er Jahren kamen, wussten hiervon schon mehr. Hauptsächlich sind größere Kenntnisse über Judentum den neuen Organisationen und umfangreichem Bildungsangebot zu verdanken. Wobei es auch regionale Unterschiede gibt. Menschen etwa aus dem heutigen Russland hatten in der Regel weniger Bezug zum Judentum als Menschen aus Zentralasien, so etwa in Usbekistan – denn in der Peripherie war es einfacher, einige Traditionen zu bewahren.

Wie wichtig ist gute Integrationsarbeit? Wie kann sich diese gestalten?

Gute Integrationsarbeit ist sehr wichtig. Ich arbeite bei dem jüdischen Frauenverein BeReshith. Das ist Hebräisch und bedeutet "am Anfang". In dem Projekt, das ich leite, geht es darum, Identität zu finden – durch die Integration in die Gesellschaft. Mit kreativen Angeboten richten wir uns an Migrantinnen und Einheimische. Alle sind willkommen. Zum Beispiel haben wir eine Schreibwerkstatt, in der Teilnehmende etwa Essays schreiben. Wir organisieren Lesungen, haben eine Theatergruppe und Diskussionsrunden und Workshops über Identität und Werte. So wollen wir den Migrantinnen auf dem Weg zu Selbstverwirklichung in Deutschland helfen.
Ich selbst hatte das Glück, dass ich, als ich zum Studium nach Deutschland gekommen bin, schon zuvor die Sprache an der Universität lernen konnte. Und über das Studium habe ich viele Kontakte knüpfen können. Austausch und Sprache sind für ein Ankommen besonders wichtig.

Stichwort Antisemitismus: Welche Rolle spielt dieser für das jüdische Leben in Deutschland besonders auch für die Zuwandernden?

Antisemitismus ist immer besorgniserregend. Ich empfinde es als positiv, dass es auf deutscher Bundes- und Landesebene etwa Beauftragte gegen Antisemitismus gibt, die sich mit den entsprechenden Fragen beschäftigen. Bei dem Thema kann man aber nicht pauschalisieren. Es ist weder ein sowjetisches Phänomen, noch ein Deutsches. Antisemitismus existiert. Und man muss ihm entgegnen.

Blick in die Zukunft: Wie denken Sie wird sich das jüdische Leben durch die Zuwanderung weiter verändern?

Nur die wenigsten meiner Interviewpartnerinnen und -partner, die ich für meine Doktorarbeit befragt hatte, haben daran gedacht, Deutschland zu verlassen. Es gibt jetzt schon viele Menschen mit jüdischem Migrationshintergrund, die in Deutschland geboren sind. Sie sind Teil der Gesellschaft, sind hier zur Schule gegangen, haben hier studiert, arbeiten. Es gibt viele jüdische Einrichtungen und Organisationen. Ich denke und hoffe, dass das jüdische Leben in Deutschland lebendig bleiben wird.

Blätterfunktion

Inhalt

  1. Intuitiv, attraktiv, aktuell
  2. Fachkräfteeinwanderungsgesetz
  3. Frauen in Migration und Integration im Fokus
  4. "Muslimisches Leben in Deutschland ist vielfältig"
  5. BAMF schreibt Erfolgsgeschichte weiter
  6. Digital inklusiv
  7. "UNHCR und BAMF sind eng verzahnt"
  8. BAMF-Forschungsdatenzentrum nimmt Betrieb auf
  9. Aufnahme afghanischer Ortskräfte
  10. Fachtagung: Asylrecht in der Praxis
  11. Freiwillige Rückkehr als Option
  12. Chance für ein lebendiges jüdisches Leben in Deutschland
  13. "Mehr als nur Sport"