Austausch ist der Schlüssel zur Integration , Datum: 19.03.2024, Format: Meldung, Bereich: Integration , Dr. Oliver Steinert über die Ausstellung "Neu anfangen, nur wie? Espelkamp und andere ‚Flüchtlingsstädte‘ in den 1950er Jahren"

Das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderte Modellprojekt "Deine Geschichte" am Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven will nicht nur Wissen zur Migrations- und Integrationsgeschichte vermitteln, sondern auch sichtbar machen: Die Sonderausstellung "Neu anfangen, nur wie? Espelkamp und andere ‘Flüchtlingsstädte‘ in den 1950er Jahren" wurde am 12. März 2024 in Anwesenheit des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier feierlich eröffnet. Dr. Oliver Steinert, Gruppenleiter des BAMF für den Bereich Grundsatzfragen der Integration und Integrationsmaßnahmen, über die Vernissage und die Bedeutung der Ausstellung im Interview.

Potraitaufnahme eines Mannes. Dr. Oliver Steinert, Gruppenleiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) für den Bereich Grundsatzfragen der Integration und Integrationsmaßnahmen Quelle: © BAMF

Das Modellprojekt „Deine Geschichte“: Weshalb ist es wichtig, deutsche Migrations- und Integrationsgeschichte in den Fokus zu nehmen?

Dr. Steinert: Die Betrachtung der deutschen Migrations- und Integrationsgeschichte ist wichtig, um zu vermitteln, das Deutschland nicht erst seit der Gastarbeiterzuwanderung Zielland von Zugewanderten gewesen ist, sondern seit jeher.

Allein die Mittellage in Europa bedingt, dass Migration in Deutschland schon immer die Bevölkerungsentwicklung stark geprägt hat. Zudem wäre die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert ohne die Zuwanderung aus den preußischen Ostgebieten oder aus Italien nicht denkbar gewesen. Die Betrachtung von Integrationsverläufen in der Vergangenheit zeigt darüber hinaus, dass Integration zwar immer eine gesellschaftspolitische Herausforderung darstellt, aber auch enorme Chancen in sich birgt.

Der Wiederaufbau Deutschlands nach 1945 ist untrennbar mit dem Engagement und den Integrationsleistungen der Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostprovinzen sowie der so genannten Gastarbeiterzuwanderung seit den sechziger Jahren verbunden, und das, obwohl beide Gruppen zunächst alles andere als warmherzig von der deutschen Bevölkerung in der heutigen Bundesrepublik aufgenommen wurden. Um dies zu würdigen und versachlichend in die polarisierenden Debatten um Zuwanderung und Integration einzubringen, ist es wichtig, die Migrationsgeschichte im Blick zu behalten.


Miteinander statt über einander reden: Welche Rolle spielt der Austausch mit Einwanderer- bzw. Minderheiten-Communities im Integrationsprozess?

Dr. Steinert: Der Austausch untereinander ist der eigentliche Schlüssel zur Integration. Ohne Austausch ist ein gesellschaftliches Miteinander und Zusammenhalt, sind gesellschaftliche Entwicklungsprozesse nicht denkbar.

Die Thematisierung von Unterschieden und auch konträren Sichtweisen auf Werte, Glauben, Traditionen und Alltagsleben hilft dabei, Konflikte lösungs- und kompromissorientiert auszutragen. Der persönliche Austausch ist die Basis dafür, einander kennen- und verstehen zu lernen sowie Vielfalt als etwas grundsätzlich Positives und nicht Bedrohliches zu erfahren.

"Espelkamp und andere ‚Flüchtlingsstädte‘ in den 1950er Jahren" – warum ist die Wanderausstellung nicht nur von historischem, sondern auch tagesaktuellem Interesse?

Dr. Steinert: Weil Flucht- und Vertreibung leider immer schon Teil der Menschheitsgeschichte waren und dies noch immer sind. Die Ausstellung erinnert uns zum einen daran, dass viele Menschen in Deutschland in der eigenen Familie Flüchtlingsschicksale kennen; Vorfahren, die beispielsweise zum Ende des Zweiten Weltkrieges aus dem damaligen Ost- und Westpreußen, Schlesien und dem Sudetenland fliehen mussten.

Dieser Blick in die jüngere Vergangenheit erinnert uns daran, dass die Schicksale syrischer, afghanischer oder ukrainischer Flüchtlinge uns näher sind, als wir vermuten. Krieg und Vertreibung bedeuten für die betroffenen Flüchtlinge stets Leid, Elend und den oft traumatischen Verlust des eigenen Zuhauses. Dies bei der aktuellen Debatte um Migration und Integration nicht aus dem Auge zu verlieren, dazu ermahnt uns auch die Ausstellung in Espelkamp.

Zwei Männer stehen vor einem Exponat der Ausstellung. Der Bundespräsident im Austausch mit Kurator Alexander Kolleker. Quelle: © Deutsches Auswandererhaus

Sie waren zur Ausstellungseröffnung vor Ort. Gibt es ein oder mehrere Exponate, die Sie besonders wahrgenommen haben?

Dr. Steinert: In der Ausstellung gibt es viele Exponate und Bildtafeln, die die Geschichte Espelkamps nach 1945 sehr eindrücklich erzählen. Bei der Begehung haben mich bei der Ausstellungseröffnung die anwesenden Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, auf deren Berichten, Fotos und Exponaten die Ausstellung beruht, besonders beeindruckt. Einige der Anwesenden waren auf den ausgestellten Fotos als Kinder abgebildet, andere haben während des Rundgangs vom Alltagsleben in Espelkamp in den fünfziger und sechziger Jahren berichtet; das hat die Eröffnungsfeier so besonders und berührend werden lassen.

Von den Exponaten hat mich am meisten der Belegungsplan der Barackensiedlung vom Ende der 1940iger Jahre beeindruckt. Auf dem Plan wurden die Namen der Familien vermerkt, die in den jeweiligen Baracken zu dieser Zeit gewohnt haben. Dieses Zeitzeugnis vermittelt einen unmittelbaren Eindruck von der Not, die damals herrschte und steht aus meiner Sicht auch symbolisch für den allumfassenden Neuanfang der nach Espelkamp gekommenen Geflüchteten und Vertriebenen. Die Barackensiedlung Kolonie war die Grundlage für das in der Folge entstehende Espelkamp.

Blick auf ein Exponat der Ausstellung. Der Plan des Barackenlagers in Espelkamp. Quelle: © BAMF