Die Beratungsstelle Radikalisierung zeigt Gesicht , Datum: 22.09.2017, Format: Interview, Bereich: Behörde

Was sind die Aufgaben der Beratungsstelle Radikalisierung?

"Die Beratungsstelle 'Radikalisierung' ist eine bundesweite Erstanlaufstelle im Bereich islamistisch motivierter Extremismus. Bei uns melden sich Ratsuchende, die eine islamistische Radikalisierung einer Person in ihrem Umfeld befürchten oder Fragen zum Thema haben. Oft rufen uns Eltern und Angehörige mit der Sorge an, dass sich ihre Kinder oder nahe Verwandte einer radikal islamistischen Gruppe zuwenden. Vermehrt wenden sich auch Lehrkräfte, Mitarbeitende aus Jugendämtern oder Flüchtlingseinrichtungen an uns. In einem ersten Gespräch helfen wir, die aktuelle Situation der ratsuchenden Person einzuschätzen, geben Antworten auf häufige Fragen und klären über die Thematik auf. Bei Bedarf vermitteln wir weitere Hilfsangebote und im Einzelfall eine persönliche Beratung und Betreuung vor Ort durch Ansprechpartner unseres bundesweiten zivilgesellschaftlichen Netzwerks.
An der Hotline der Beratungsstelle 'Radikalisierung' nehmen derzeit sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Anrufe von Ratsuchenden entgegen. Im Schnitt erreichen uns 70-80 Anrufe monatlich, zu Höchstzeiten auch schon mal 150."

Die Beratung findet telefonisch und schriftlich statt, in welchen Sprachen erhalten Sie Anfragen?

"Wir beraten in den Sprachen Deutsch, Türkisch, Arabisch, Englisch, Farsi, Russisch und Urdu."

Gibt es Fälle welche den Bearbeiterinnen und Bearbeitern besonders Nahe gehen oder die in Erinnerung geblieben sind?

Da unsere Beratungen vertraulich sind, können wir keine Einzelheiten zu tatsächlichen Fällen nennen. Folgende Beispiele sind daher eine Zusammensetzung verschiedener Fälle, in denen eine Weitervermittlung an und eine enge Betreuung über einen längeren Zeitraum durch uns und unsere zivilgesellschaftlichen Kooperationspartner erfolgten:

"Eine Mutter wandte sich an uns, da sie sich seit mehreren Monaten Sorgen um ihre Tochter machte. Die 15-Jährige beschimpfte ihre Familie als 'Ungläubige' und war in einschlägigen islamistischen Chatgruppen aktiv, in denen die 'wahre' islamische Lebensweise propagiert wurde. Nach einigen Diskussionen kam dabei wohl eine kleine Gruppe zum Schluss, dass man diese Lebensweise nur im IS-Gebiet verwirklichen könne. Gemeinsam planten sie die ersten Schritte für eine Ausreise nach Syrien über die Türkei. Dies bemerkte die Mutter erst, als ihre Tochter ohne Nachricht über einen Tag lang verschwunden war. Nachdem die Mutter im Zimmer weitere Hinweise auf die Ausreisepläne ihrer Tochter fand, verständigte sie die zuständigen Sicherheitsbehörden. Diese reagierten umgehend und konnten die Tochter am Flughafen auf dem Weg in die Türkei aufhalten. Derzeit findet eine intensive Betreuung der Ratsuchenden und der Betroffenen unter aktiver Beteiligung diverser Akteure, wie Sicherheitsbehörden, Jugendämter und psychosoziale Anlaufstellen, statt.

Ein Ratsuchender meldete sich, da sich sein 19-jähriger Cousin in Verhalten und Aussehen stark verändert hatte und zunehmend radikale Äußerungen tätigte. Ihm fiel auf, dass sein Cousin sich auf Facebook positiv zu islamistisch motivierten Anschlägen äußerte und dort schrieb, er könne sich vorstellen, Ähnliches durchzuführen. Der Ratsuchende machte sich besonders Sorgen, da ein weiteres Familienmitglied schon Richtung Syrien zum sog. IS ausgereist war. Auf seinen Wunsch hin wurde er in ein weitergehendes Beratungssetting vermittelt und wird derzeit von einer kooperierenden Beratungsstelle betreut und im Umgang mit seinem Cousin gecoacht.

Eine Fachkraft aus einer Vorschule meldete sich, da ein 5-jähriger Junge immer wieder davon erzählte, dass er als Märtyrer sterben wolle und sich weigerte, mit nicht-muslimischen Kindern zu spielen. Der Junge sprach viel vom Höllenfeuer und den 'Ungläubigen', die dorthin kommen würden. Auch hier erfolgte eine Vermittlung an unsere zivilgesellschaftlichen Kooperationspartner, die gemeinsam mit den Ratsuchenden und den zuständigen Behörden ein weiteres Vorgehen entwickelten.

Gerade im Rahmen der E-Mail-Beratung ereilen uns hin und wieder Nachrichten mit Prophezeiungen bezüglich des baldigen Weltunterganges: Der letzte sollte im Herbst 2016 geschehen sein. Dazu kommen auch verschwörungstheoretische Abhandlungen über Verstrickungen der Illuminaten in Sachen Weltregierung."

Welche Voraussetzungen sollte man für diese Tätigkeit mitbringen?

"Bei uns arbeiten SozialpädagogInnen, Politik- und SozialwissenschaftlerInnen sowie psychologische Fachkräfte, alle entsprechend geschult, die Gespräche zu führen. In unserem bundesweiten zivilgesellschaftlichen Netzwerk sind ebenfalls viele Islamwissenschaftler tätig. Bei der telefonischen Beratungstätigkeit ist ein empathisches Vorgehen sehr wichtig. Wir versuchen, uns in die Situation der Ratsuchenden hineinzuversetzen und dadurch ihre Bedürfnisse und Wünsche zu verstehen. Eine ganzheitliche Betrachtung der möglichen Radikalisierungsverläufe ermöglicht uns eine flexible inhaltliche Ausgestaltung des Gesprächs sowie im Einzelfall eine zielgerichtete Vermittlung in weiterführende Angebote. Auch die Einschätzung der Sicherheitsrelevanz gehört zu unserer Tätigkeit, deshalb sind wir dazu ebenfalls speziell geschult."