"Die Geflüchteten aus der Ukraine haben eine sehr hohe Motivation, Deutsch zu lernen und Arbeit zu finden." , Datum: 15.07.2022, Format: Interview, Bereich: Presse , weiter bilden spricht mit den Integrationskursverantwortlichen des BAMF

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine stehen die Integrationskursträger und ihre Lehrkräfte vor der Herkulesaufgabe, einer sechsstelligen Zahl von Geflüchteten quasi aus dem Stand adäquate Sprach- und Orientierungskurse anzubieten. Für die Steuerung der bundesweit durchgeführten Integrationskurse ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) verantwortlich, eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Innenministeriums. Für weiter bilden standen seitens des BAMF Uta Saumweber-Meyer und Jens Reimann Rede und Antwort zur aktuellen Situation. Die Fragen stellte Dr. Peter Brandt.

weiter bilden: Fangen wir mit den nackten Zahlen an: Wie viele ukrainische Geflüchtete befinden sich in Deutschland?

Uta Saumweber-Meyer: Es gibt keine verlässliche Statistik über den Aufenthalt von Ukrainer/innen in Deutschland, da die Menschen sich beispielsweise ohne Registrierung legal in Deutschland aufhalten können, in andere Staaten weitergereist oder in die Ukraine zurückgekehrt sein können. Laut Ausländerzentralregister sind aktuell (Mitte Juni 2022, d. Red.) rund 850.000 Personen nach Deutschland eingereist, davon ungefähr 40 Prozent Minderjährige. Und unter den Erwachsenen sind rund 85 Prozent Frauen. Wir haben diese Woche den 120.000sten Antrag auf Zulassung für einen Integrationskurs bewilligt. In den Kursen befinden sich bereits über 35.000 Personen. Weitere 20.000 sind angemeldet. Und wir rechnen in den nächsten Wochen noch mit einer deutlichen Steigerung der Teilnehmendenzahl.

weiter bilden: Müssen Sie viele Anträge ablehnen?

Saumweber-Meyer: Nein. Das Verfahren ist stark vereinfacht. Wir haben bisher keine Ablehnungen und liefern die Zulassungen sehr zeitnah. Das hat hohe Priorität.

weiter bilden: Welche Integrationskurstypen liegen bei den Ukrainer/innen hoch im Kurs?

Saumweber-Meyer: Das entscheidet sich ja über den Einstufungstest. De facto läuft es ganz überwiegend auf allgemeine Integrationskurse hinaus – anders als 2015/16, wo wir wesentlich mehr Alphabetisierungskurse hatten. Im eher einstelligen Prozentbereich wird der Jugendintegrationskurs nachgefragt, der mit 900 Stunden einen größeren Umfang hat und sehr gut auf Ausbildung und Arbeitsmarkt vorbereitet. Wir haben auch den Intensivkurs mit 400 Stunden Sprachkurs und 30 Stunden Orientierungskursanteil im Portfolio, wovon jetzt zunehmend Teilnehmerinnen und Teilnehmer Gebrauch machen, die schnell Deutsch lernen wollen. Wie alle anderen Kursarten auch muss der Intensivkurs wirklich zu den Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen passen, weil er sehr zügig geht.

weiter bilden: Wie deuten Sie die Diskrepanz zwischen der Zahl 120.000 Zulassungsanträge und der Anzahl potenziell in Frage kommender Interessenten am Kurs – fast 500.000?

Saumweber-Meyer: Viele der Geflüchteten wissen nicht, wie es weitergeht, wollen oft auch schnell wieder nach Hause, sodass hier noch ein erhebliches Maß an Unsicherheit herrscht. Viele nutzen aber auch die Selbstlernmöglichkeiten, die wir auch auf der Seite "germany4ukraine" verlinkt haben. Da ist z.B. das Portal des Deutschen Volkshochschul-Verbandes, das den Integrationskurs komplett abbildet, als reines und gutes Selbstlernportal. Hier sind die Klickraten sehr viel höher geworden. Und dann gibt es auch noch andere Angebote, z.B. vom GoetheInstitut oder der Deutschen Welle. Auch die Bundesländer bieten Sprachkurse an. Und wir arbeiten auch mit den sogenannten Erstorientierungskursen (EOK).

Jens Reimann: Diese sind als flexible Kurse entwickelt worden für eine erste Orientierung im Alltag und den Erwerb basaler mündlicher Deutschkenntnisse. Die Möglichkeiten für Erstorientierungskurse haben wir verbessert, das Finanzvolumen verdoppelt. Aus den Bundesländern wird uns berichtet, dass die Kurse sehr rasch in Anspruch genommen werden. Da wollen wir die Förderrichtlinie verändern und sie künftig für Neuzuwanderer als ein zusätzliches Format vorhalten.

weiter bilden: In welchem Umfang werden EOK in Anspruch genommen?

Saumweber-Meyer: Seit Einführung der EOK im Jahr 2017 haben über 5.000 EOK stattgefunden. Der EOK-Teilnehmendenanteil von Schutzbedürftigen aus der Ukraine ist in den vergangenen Wochen rapide angestiegen. Nichtsdestotrotz ist der EOK ein Angebot, das sich vor allem auch an Asylsuchende mit unklarer Bleibeperspektive richtet. Das Bundesamt ist sehr dankbar, dass die Träger vor Ort auch die Bedarfe der Menschen anderer Herkunftsländer nicht aus dem Blick verlieren. Speziell für die Geflüchteten aus der Ukraine sind die Erstorientierungskurse auch deswegen sehr geeignet, weil sie zu der Situation passen, wo unklar ist, ob der Aufenthalt in Deutschland wirklich längerfristig ist. Wer einen Integrationskurs macht, hat sich entschieden, ich bleibe jetzt länger. Und wir wissen ja, dass viele Ukrainer/innen jeden Tag daran denken, wieder zurückzukehren.

Reimann: Dass Menschen zurückkehren, passiert natürlich auch in dem Zeitraum zwischen der Zulassung und der Kursanmeldung beim Träger. Das erklärt zum Teil, warum die Zahl der Kursanmeldungen kleiner ist als die der Zulassungen.

weiter bilden: Gibt es weitere Gründe für eine Nicht-Teilnahme?

Saumweber-Meyer: Wir haben durchaus auch ältere Menschen, die nicht auf den Arbeitsmarkt wollen und daher auch die Sprachkurse aktuell nicht benötigen.

weiter bilden: Ist denn eigentlich der Sprachkurs die entscheidende Voraussetzung, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen?

Saumweber-Meyer: Grundsätzlich ist der Deutscherwerb mindestens auf B1-Niveau die Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben in Deutschland, reicht aber für die Aufnahme einer qualifizierten Tätigkeit definitiv nicht. Fast alle, rund 90 Prozent, steigen aktuell ins erste Modul des Integrationskurses ein. Das heißt, Vorkenntnisse in Deutsch sind nicht allzu viele vorhanden und somit auch kaum Chancen auf adäquate Beschäftigung.

weiter bilden: Und was ist mit eher einfachen Tätigkeiten im Gesundheits- oder Hotel- und Gaststättenbereich?

Saumweber-Meyer: Tatsächlich gab es einzelne Bundesländer, die uns gebeten hatten, Erstorientierungskurse vielleicht so auszurichten, dass man sich mündlich verständigen kann für das Kellnern, das ist aber nicht das, was wir unter qualifikationsadäquatem Arbeitseinsatz sehen.

Reimann: Es kursiert immer wieder mal die Behauptung, dass wir als BAMF sagten, das Sprachniveau B1 reiche für den Arbeitsmarkt, und unser Ziel sei es deswegen, im Integrationskurs B1 zu erreichen. Wie gesagt, für qualifizierte Tätigkeiten reicht das Niveau B1 definitiv nicht, nur eben für sprachärmere Helfertätigkeiten, aber das entspricht ja auch nicht dem Qualifikationsniveau, das viele Teilnehmende mitbringen. Ohne ausreichende Sprachkenntnisse werden sie unter ihren Möglichkeiten beschäftigt, was auch aus volkswirtschaftlicher Sicht kontraproduktiv wäre.

Saumweber-Meyer: Und dafür bieten wir die Berufssprachkurse an, die auf den Integrationskurs aufbauen. Also es braucht zielstrebiges Lernen, aber auch noch Geduld und Gelassenheit. Die Integrationskurse sind im Moment überwiegend Ganztagskurse. Sollte später das Sprachniveau eine adäquate Erwerbsmöglichkeit parallel zur Arbeit ermöglichen, dann sind jederzeit auch Teilzeitkurse möglich.

weiter bilden: Was wissen Sie über Bildungsvoraussetzungen, Lernmotivation und die Lernkurve der Geflüchteten aus der Ukraine?

Saumweber-Meyer: Bei Neuzuwandernden, die den Weg zum Integrationskurs suchen, ist das Interesse, dort zu lernen, generell schon sehr groß. Aber die Lernvoraussetzungen sind natürlich unterschiedlich. Das in Bezug auf die Geflüchteten aus der Ukraine zu analysieren, war bisher nicht möglich, weil Einstufungstests noch nicht systematisch ausgewertet und die Kurse erst angelaufen sind. Aber wir hören, dass die Ukrainer/innen überdurchschnittliche Bildungsvoraussetzungen mitbringen und eine sehr hohe Motivation haben zu lernen und Arbeit zu finden – manchmal auch etwas Unzufriedenheit, dass es nicht noch schneller geht. Ich vermute, dass der Spracherwerb der neuen Teilnehmendengruppe vielleicht nicht zügiger, aber doch vertiefter sein wird, auch verstärkt durch eine technische Affinität, die die Nutzung der Selbstlernmöglichkeiten wahrscheinlicher macht. Also ich rechne mit einem Mehr an Üben und Sich-damit-vertraut-machen über das normale Kursgeschehen hinaus, aber das ist nur eine Arbeitshypothese.

weiter bilden: Worin bestehen aktuell die größten Herausforderungen? Stehen genügend Lehrkräfte zur Verfügung?

Saumweber-Meyer: En gros ja, wir haben allein seit 2015 über 32.000 Lehrkräfte zugelassen. Ob das überall vor Ort bedarfsdeckend ist, dazu hören wir Unterschiedliches. Wir wollen jetzt noch mal Lehrkräfte motivieren, sich tatsächlich für einen Integrationskurs zu entscheiden. Insgesamt läuft es aber gut an, weil wir, unsere Träger und alle anderen Beteiligten im Vergleich zu 2015/16 viel besser vorbereitet sind. Es greifen Routinen mit den rund 260 Regionalkoordinatorinnen und -koordinatoren, wir wissen, mit wem wir uns vor Ort absprechen müssen. In manchen Punkten sind wir auch flexibler geworden, zum Beispiel bei der Raumsituation. Eigentlich müssten die Kursräume vorher besichtigt und dann genehmigt werden. Inzwischen lassen wir uns aber per Video Räume und Grundrisse zeigen. Und dann haben wir anders als 15/16 das BAMF-Navi, das detailliert darüber informiert, wo welche Kurse angeboten werden, welche Kurse wie viele freie Plätze haben und welche in Teilzeit sind. Das ist eine zuverlässige Quelle, um abzusehen, ob ein Kurs zustande kommt, ob überhaupt Nachfrage besteht. Das erleichtert uns allen den Überblick, die Transparenz und die Organisation.

weiter bilden: Ist das Thema Kinderbetreuung jetzt angesichts der großen Zahl der mitgekommenen Kinder ein Problem?

Saumweber-Meyer: Das Thema ist durchaus eine Herausforderung, die wir sowohl von den Kursträgern als auch von Jobcentern gespiegelt bekommen. Wir haben den "Integrationskurs mit Kind", ein Programm des Familienministeriums gemeinsam mit dem Innenministerium, das wir ausbauen wollen. Die sogenannte Servicestelle, die vom Bundesverwaltungsamt betrieben wird, hat hier eine wichtige Funktion. Wir versuchen gleichzeitig Tagesmütter zu qualifizieren, aber hier muss die Nachfrage an die Servicestelle adressiert werden. Nichts ist hier ein Selbstläufer. Wir müssen auch den Kindern gerecht werden. Gleichzeitig hoffen wir, dass auch die reguläre Kinderbetreuung von den Ländern und Kommunen verstärkt und ausgebaut wird.

weiter bilden: Welche Bedeutung hat denn die veränderte Situation ab 01.06. für die Steuerung von Integrationskursen?

Saumweber-Meyer: Ein entscheidender Unterschied ist, dass die Jobcenter jetzt die Möglichkeit haben, zur Teilnahme am Integrationskurs zu verpflichten. Es muss dann kein Antrag mehr bei uns gestellt werden. Wobei die Teilnehmenden die Verpflichtung meistens als Chance sehen. In den Kursen spielt es kaum eine Rolle, wer freiwillig kommt und wer verpflichtet ist. Das fand ich über all die Jahre hinweg am erstaunlichsten, dass das in den Kursen nicht als relevanter Unterschied wahrgenommen wird. Mit der Verpflichtung geht übrigens eine automatisierte Datenübermittlung an uns einher, sodass wir Verbleib und Kursfortschritt monitoren können.

weiter bilden: Welches Wissen hätten Sie noch gern, um Integrationskurse passgenauer und erfolgreicher zu gestalten?

Saumweber-Meyer: Oh, so manches! Wir würden gerne mehr darüber wissen, wie der Einstufungstest noch passgenauer und präziser die Praxis des jeweiligen Unterrichts im Integrationskurs wie auch im Berufssprachkurs bestimmen könnte. Dazu läuft aktuell auch eine Ausschreibung für einen neuen Einstufungstest, welcher in beiden großen Programmen eingesetzt werden kann.

Reimann: So ein Einstufungstest bewegt sich ja immer in der Spannung zwischen Zuverlässigkeit und Pragmatik. Wir würden gerne sehr umfangreich Bildungsaspirationen und Lernvoraussetzungen berücksichtigen, aber da ist die Welt mit ihren vielen verschiedenen Bildungssystemen sehr komplex und dynamisch. Wir können ja nicht sagen, die Teilnehmenden aus einem bestimmten Herkunftsland hätten bestimmte Lernvoraussetzungen allein aufgrund des Schulsystems in diesem Land. Schon der Begriff »Studium« wird weltweit sehr unterschiedlich definiert. Wir können so etwas abfragen, aber das kann natürlich kein wissenschaftliches Seminar sein, denn es soll ja auch praktikabel sein. Wir wollen ja auch zügig mit dem Kurs beginnen.

Saumweber-Meyer: Wir wissen auch generell zu wenig über die Bleibeabsichten und -dauer. Das ist einer der wichtigsten Faktoren, um für uns, unsere Träger und die Lehrkräfte Planungssicherheit zu gewinnen. Wenn Träger in Vorleistungen gehen und dann die Hälfte der Kursteilnehmenden nach 100 Stunden abbricht, weil sie zurück in die Heimat gehen, dann ist das eine durchaus eine Herausforderung. Und für die Kursqualität wäre natürlich das Wissen darüber, wie gelernt wird oder warum welche Lernfortschritte geschehen, relevant. Perspektivisch könnte das Thema Learning Analytics wichtig werden, falls man mehr mit Lernmanagementsystemen arbeitete. Dann ließe sich sehr individuell beobachten, wo welche Art von Fehlern gemacht würde. Man könnte gezielter Übungsmaterial auswählen oder auch nachsteuern, das würde individualisierten Unterricht und individuellen Lernfortschritt bedeuten.

weiter bilden: Letzte Frage: Welche Wünsche haben Sie an die Träger und Lehrkräfte?

Saumweber-Meyer: Wir stehen in sehr gutem Austausch mit Trägern und Verbänden und haben ein partnerschaftliches Verhältnis entwickelt, nicht zuletzt wegen der finanziellen Sicherheit, die wir in den letzten zwei Jahren dank des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes den Trägern geben konnten. Ich bin weiterhin gerne bereit, und dazu sind wir im Gespräch, in der Verwaltung noch weiter zu vereinfachen. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich wünsche mir von den Trägern und Lehrkräften, dass sie einfach mit ihrem guten Fachwissen weiterhin engagiert ihre Arbeit machen wie bisher.

weiter bilden: Vielen Dank für die aktuellen Einblicke!

Das Interview erschien in der Ausgabe 29 der weiter bilden.

Quelle: Saumweber-Meyer, U., Reimann, J. & Brandt, P. (2022). Die Geflüchteten aus der Ukraine haben eine sehr hohe Motivation, Deutsch zu lernen und Arbeit zu finden. weiter bilden. DIE Zeitschrift für Erwachsenenbildung 29 (2), 47–50. http://www.die-bonn.de/id/41530

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