Kinder und Jugendliche nach der Flucht , Datum: 31.07.2019, Format: Meldung, Bereich: Behörde

Mit der BAMF-Kurzanalyse 5|2019 wird der Alltag und die Teilhabe von geflüchteten Kindern und Jugendlichen näher beleuchtet und dadurch auch ein Einblick in die Lebenswelt von geflüchteten Familien gegeben. Hierfür werden die Daten der 2. Welle der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten aus dem Jahr 2017 herangezogen.

Wir haben mit Cristina de Paiva Lareiro, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich "Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt" im BAMF-Forschungszentrum, über die wichtigsten Erkenntnisse der Kurzanalyse gesprochen.


Frau de Paiva Lareiro, in Ihrer Kurzanalyse beschäftigen Sie sich mit verschiedenen Dimensionen der Teilhabe von Kindern aus geflüchteten Familien. Welche Erkenntnisse haben Sie am meisten überrascht?

DE PAIVA LAREIRO: Überrascht hat mich besonders, dass sich Mädchen und ältere Jugendliche bei ihren Antworten doch recht stark von den anderen befragten Gruppen unterscheiden. Obwohl sie von besonders hohen Deutschkompetenzen berichteten, gaben sie am häufigsten an, in der Freizeit keinen Kontakt zu Deutschen zu pflegen. Befragte Mädchen fühlten sich im Zeitverlauf auch weniger in Deutschland willkommen. Darüber hinaus waren ältere Jugendliche beider Geschlechter tendenziell unzufriedener mit ihrem Leben.
Bei den älteren Jugendlichen zwischen 16 und 17 Jahren lassen sich die Unterscheide auf die unterschiedlichen Gelegenheiten für Kontakte zurückführen. Aus vorherigen Studien wissen wir, dass Geflüchtete dieser Altersgruppe seltener auf (allgemeinbilden­de) Schulen gehen als jüngere Geflüchtete. Die Schule stellt jedoch einen sozialen Raum dar, welcher es ermöglicht, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen und diese Kontakte zu intensivieren, so dass Freundschaften entstehen. Darüber hinaus sind ältere Jugendliche häufig stärker als ihre jüngeren Geschwister in die Unterstützung der Eltern eingebunden, übernehmen beispielsweise die Rolle des Übersetzenden. Soziale Kontakte außerhalb der Familie aufzubauen und zu pflegen wird dadurch erschwert.
Bei der Gruppe der geflüchteten Mädchen scheinen folgende Aspekte bedeutsam zu sein: Die geflüchteten Familien stammen zum großen Teil aus Kulturkreisen, in welchen aufgrund der religiösen und kulturellen Prägung andere Normen und Umgangsformen zwischen den Geschlechtern üblich sind als in Deutschland. Hinweise darauf, dass auch erwachsene weibliche Geflüchtete tendenziell weniger soziale Kontakte mit Einheimischen pflegen als männliche, liegen aus anderen Analysen unseres Datensatzes vor und stärken diese These. Dies könnte für geflüchtete Mädchen die soziale Teilhabe erschweren, da es sich bei vielen Freizeitangeboten um geschlechtergemischte Veranstaltungen handelt.

Sie haben festgestellt, dass geflüchtete Kinder und Jugendliche in den Haushalten über weniger materielle Ressourcen verfügen als Gleichaltrige ohne Fluchthintergrund. Die geflüchteten Kinder und Jugendliche haben beispielsweise seltener einen eigenen Schreibtisch oder ein eigenes Zimmer. Wie können Sie sich diese Differenzen erklären?

DE PAIVA LAREIRO: Unterschiede in Bezug auf die Ausstattung des häuslichen Umfeldes zwischen Kindern mit und ohne Fluchthintergrund waren zu erwarten. Zur Einordnung der Befunde muss berücksichtigt werden, dass der Großteil der geflüchteten Familien in der Stichprobe noch von staatlichen Transferleistungen lebt und im Mittel entsprechend weniger Einnahmen zur Verfügung hat als eine Familie, die sich durch Erwerbsarbeit finanziert, wie es das Gros der übrigen Vergleichsfamilien mit und ohne Migrationshintergrund aus dem Sozio-oekonomischen Panel tut. Hinzu kommt noch, dass die vorhergehende Flucht aus dem Herkunftsland die Familien dazu zwang, sich von einem großen Teil ihres materiellen Besitzes zu trennen. Auf der Flucht tragen die Familien in der Regel nur die nötigsten Besitztümer mit sich. Der Aufbau eines komplett neuen Hausstands in einem neuen Land benötigt dann Zeit. Dieser Umstand betrifft auch die in den Familien lebenden Kinder und Jugendlichen.

Welches Fazit ziehen Sie aus den bisherigen Ergebnissen zur Lebenswelt von geflüchteten Kindern und ihren Familien?

DE PAIVA LAREIRO: Die Kinder und Jugendlichen leben fast alle mit ihrer Kernfamilie, also den Eltern und Geschwister, zusammen und berichten zu großen Teilen davon, in der Gesellschaft angekommen zu sein: Sie schätzten ihre Deutschkompetenzen als gut oder sehr gut ein (86 Prozent). Die Befragten gaben an, ihre Freizeit täglich, mehrmals die Woche oder jede Woche mit Deutschen zu verbringen (75 Prozent), und obwohl zwei Drittel angaben, die Menschen aus ihrem Herkunftsland (sehr) oft zu vermissen, konnten sich fast alle von ihnen vorstellen, in Deutschland zu bleiben (95 Prozent).
Es bleibt spannend, wie sich die Lebenswelt der Kinder und ihrer Familien weiterhin gestaltet, ob beispielsweise Mädchen eine stärkere soziale Teilhabe gelingt und die Jugendlichen sich auch nach mehreren Jahren noch vorstellen können, in Deutschland zu bleiben. Der Datensatz der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten bietet mit den zukünftigen Befragungswellen die einzigartige Möglichkeit, die Jugendlichen und ihren weiteren Werdegang in den Familien zu begleiten und diesen Fragen auf den Grund zu gehen.

Die vollständige BAMF-Kurzanalyse 5|2019 finden Sie unter "Downloads".