Schreiben, Lesen und Deutsch lernen , Datum: 08.09.2020, Format: Meldung, Bereich: Integration

Weltweit können rund 860 Millionen Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben. Um darauf aufmerksam zu machen, findet alljährlich am 8. September der Weltalphabetisierungstag statt. Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hat sich dieser Zielgruppe angenommen. Der sogenannte Alphabetisierungskurs, ein spezieller Integrationskurs, wird seit dem Jahr 2005 angeboten. Allein im Jahr 2019 gab es über 3000 Kurse. Insgesamt besuchten seit 2005 über 350.000 Teilnehmende einen Alphabetisierungskurs. Katharina Faltermeier ist im BAMF für die Alphabetisierungskurse zuständig und stellt dieses besondere Angebot vor.

Warum gibt es den Alphabetisierungskurs? Warum braucht es dieses Angebot für diese Zielgruppe?

Katharina Faltermeier: Die Alphabetisierungskurse und die dort vermittelten Kompetenzen bilden die Grundlage für eine echte Teilhabe an der deutschen Gesellschaft, in der der sichere Umgang mit Schrift die Voraussetzung für die Partizipation am sozialen, wirtschaftlichem sowie kulturellem Leben darstellt. Auch für die persönliche Entfaltung und Weiterentwicklung der Teilnehmenden sind ausreichende schriftsprachliche Kompetenzen unentbehrlich.

Nicht oder nicht ausreichend alphabetisierte Zugewanderte haben es besonders schwer, denn die Alphabetisierung in einem fremden Schriftsystem bedeutet für erwachsene Zugewanderte in Deutschland nichts weniger, als das "verspätete" Erlernen von Schreiben und Lesen gleichzeitig mit dem Erwerb einer Fremdsprache zu vollziehen.

Während die Teilnehmenden die mündlichen Fertigkeiten meist sehr schnell erlernen, fehlt ihnen das schriftsprachliche Gerüst, da sie nicht mit der Sprache als kodiertes System vertraut sind wie bereits Alphabetisierte.

Zu dieser ohnehin schon großen Herausforderung kommt noch hinzu, dass sie diese Aufgabe in einem fremden sozialen und sprachlichen Umfeld bewältigen müssen.

Wie genau sieht das Angebot aus? Worin unterscheidet es sich genau von den anderen Angeboten?

Katharina Faltermeier: Grundlage ist das Konzept für einen bundesweiten Alphabetisierungskurs, welches als Auftrag vergeben und in enger Zusammenarbeit mit dem Bundesamt und anerkannten Expertinnen, Experten und Praktikern erstellt wurde.

Der größte Unterschied zwischen dem allgemeinen Integrationskurs und dem Alphabetisierungskurs besteht im Alphabetisierungsbedarf der Kursteilnehmenden. Viele Teilnehmende sind schriftunkundig und müssen auch das Lesen und Schreiben erlernen.

Ziel des Alphabetisierungskurses ist es daher, die Teilnehmenden innerhalb von maximal 1.300 Unterrichtsstunden à 45 Minuten (inkl. Wiederholung) zu alphabetisieren und ihnen gleichzeitig mindestens grundlegende Deutschkenntnisse zu vermitteln.

Im Vergleich zum allgemeinen Integrationskurs (maximal 1000 Unterrichtsstunden inkl. Wiederholung) ist das Grundstundenkontingent im Alphabetisierungskurs höher, zudem wird in Alphabetisierungskursen in kleineren Gruppen gelernt. In der Regel finden die Kurse mit einer reduzierten Wochenstundenzahl statt, meist zwischen 12 und 16 Unterrichtsstunden.

Außerdem wird im Alphabetisierungskurs in der Regel das sprachliche Niveau von A2 angestrebt und nicht B1 wie in den anderen Integrationskursen.

An wen genau richten sich die Kurse? Wer ist die Zielgruppe?

Katharina Faltermeier: Den Alphabetisierungskurs besuchen sowohl primäre als auch funktionale Analphabeten.

Unter "primären Analphabeten" versteht man Personen, die in ihrer Heimat keine Schule besucht haben. Sie verfügen über keinerlei schriftsprachliche Kompetenzen und haben keine "Stifterfahrung". Ihr Lernprozess beginnt mit dem Erwerb einzelner Buchstaben bzw. Buchstabengruppen. Zusätzlich fehlt ihnen oft die Sprachbewusstheit in der eigenen Muttersprache, was die Reflexion über den eigenen Sprachlernprozess erschweren kann.

Die zweite Gruppe sind die "funktionalen Analphabeten". Sie haben zwar in der Regel über einen längeren Zeitraum die Schule besucht, aber die erworbenen schriftsprachlichen Kompetenzen in der Muttersprache reichen für eine erfolgreiche Bewältigung des Alltags nicht aus.

Die Folge kann die Entwicklung von Vermeidungsstrategien sein, mit deren Hilfe die Teilnehmenden Schreib- und Lesesituationen umgehen. Dies wiederum kann dazu führen, dass die ehemals vorhandenen Kenntnisse und Fähigkeiten zum Teil wieder verlernt werden.

Um den richtigen Kurs für die Teilnehmenden im Integrationskurs zu ermitteln, wurde das bundeseinheitliche standardisierte "Einstufungssystem für die Integrationskurse in Deutschland" entwickelt. Darin ist der Alpha-Baustein enthalten, mit Hilfe dessen der grundsätzliche Alphabetisierungsbedarf festgestellt werden kann und die Teilnehmenden in die Alphabetisierungskurse zugewiesen werden können.

Hinzu kommt, dass viele Teilnehmende im Herkunftsland oder auf der Flucht Traumatisches erlebt haben, in prekären Wohnverhältnissen leben und sich um die Angehörigen in der Heimat sorgen, was den Lernprozess zusätzlich erschweren kann.

Wie werden die Lehrkräfte auf die besondere Aufgabe im Alphabetisierungskurs vorbereitet?

Katharina Faltermeier: Zum Kurs gehören neben den Teilnehmenden auch die Lehrkräfte. Sie stehen vor einer besonderen Herausforderung, weil diese Zielgruppe alphabetisiert werden muss, meistens sehr heterogen ist und sie oftmals wenig Lernvorerfahrung mitbringt. Daher ist für die Unterrichtstätigkeit in Alphabetisierungskursen eine ausreichende fachliche Qualifikation und Eignung notwendig.

Lehrkräfte, die bereits für den Integrationskurs zugelassen sind, aber noch nicht die notwendigen Vorkenntnisse für eine Unterrichtstätigkeit in Alphabetisierungskursen des Bundes mitbringen, müssen die Additive Zusatzqualifizierung für Lehrkräfte in Alphabetisierungskursen (ZQ Alpha) absolvieren.

Dabei werden sie mit den aktuellsten fachlichen und methodischen Aspekten der Alphabetisierung in Deutsch als Zweitsprache vertraut gemacht und auf die Unterrichtstätigkeit im Alphabetisierungskurs vorbereitet.
Inhaltlich baut die ZQ Alpha auf einer bereits abgeschlossenen Qualifizierung im Bereich Deutsch als Zweitsprache (DaZ) oder auf einem Studium in DaZ oder Deutsch als Fremdsprache auf. Sie behandelt alle für die Alphabetisierungsarbeit mit Migranten wichtigen und grundlegenden Themen.

Wie beurteilen Sie den Erfolg des Kurses?

Katharina Faltermeier: Im Alphabetisierungskurs werden den Teilnehmenden die lateinischen Schrift- und Deutschkenntnisse auf mindestens A2-Niveau nach dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen (GER) vermittelt. Gleichzeitig können die Teilnehmenden im Kurs auch Kompetenzen erwerben, die ihnen die aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in Deutschland ermöglichen.

Das Bundesamt überprüft zudem das Kursangebot fortwährend und erwägt, ob und inwieweit das Angebot des Alphabetisierungskurses noch zielgruppengerechter angepasst werden kann.
Dabei spielen auch Überlegungen eine Rolle, ob und inwiefern bei Bedarf Teile des Alphabetisierungskurses mit Hilfe anderer und/oder begleitender Maßnahmen durchgeführt werden können.

Was auf jeden Fall als Erfolg anzusehen ist: über die Hälfte aller Teilnehmenden des Alphabetisierungskurses schließt den Deutschtest für Zuwanderer (DTZ) mit einem Sprachniveau von A2 oder sogar dem höheren Niveau B1 ab.
Vor dem Hintergrund, dass diese Teilnehmenden neben ihrem Alphabetisierungsbedarf oft ungünstige Lernvoraussetzungen mitbringen, wie traumatische Erlebnisse, prekäre Wohnverhältnisse sowie Sorgen um die Angehörigen in der Heimat, sind diese Ergebnisse besonders erfreulich.