Chancengerechtigkeit, Antidiskriminierung und gesellschaftliche Teilhabe , Datum: 18.12.2020, Format: Meldung, Bereich: Migration und Aufenthalt , Vertreterin der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen über den Tag der Migranten

Zum Tag der Migranten am 18. Dezember würdigt das Bundesamt die vielfältigen Leistungen von Migrantenorganisationen. Deren Engagement ist insbesondere im Bereich gesellschaftliche Teilhabe sichtbar und in der deutschen Integrationslandschaft unverzichtbar geworden. Susanna Steinbach ist in mehreren Migrantenorganisationen aktiv und seit 2017 im Vertreterrat der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen. Im BAMF-Interview erklärt sie, warum gute Vernetzung und Interessensvertretungen zu einer noch besseren Beteiligung beitragen.

Ein Portraitbild einer Frau Susanna Steinbach Quelle: TGD | Andreas Schwarz

Frau Steinbach, Sie sind Geschäftsführerin der Türkischen Gemeinde in Deutschland und gewähltes Mitglied auch im Vertreterrat der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen. Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, dass sich Menschen mit Migrationsgeschichte organisieren?

Susanna Steinbach: Menschen mit ähnlichen Erfahrungen und Hintergrund haben oft die gleichen Interessen. So setzt sich die Türkische Gemeinde in Deutschland seit mittlerweile 25 Jahren für die Interessen ehemaliger Gastarbeiter, deren Kinder und Enkelkinder ein. Das sind zum Beispiel: Den Schulerfolg der eigenen Kinder sicherzustellen, – oder sich gegen Diskriminierung am Wohnungsmarkt einzusetzen.

Der Zusammenschluss als Community in einer Migrantenorganisation ist eine natürliche Genese – Menschen mit gleichen Interessen und Themen finden sich. Viele Organisationen sind in Bezug auf das Heimatland und zur Pflege der kulturellen Identität entstanden. Heute engagieren sich Migrantenorganisationen in nahezu allen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens der Aufnahmegesellschaft und sind thematisch sehr breit aufgestellt. Mittlerweile haben viele der Organisationsmitglieder keine eigene Migrationserfahrung mehr, im Auge der Öffentlichkeit wird das oftmals nicht wahrgenommen. Sie werden aufgrund ihres Aussehens und ihres Namens dem Herkunftsland und damit verbundenen Assoziationen "zugeordnet". Aber wir vertreten Menschen, deren Lebensmittelpunkt in Deutschland ist und der für viele auch nie woanders war.

Jede Migrantenorganisation hat ihre eigene Ausrichtung. Es gibt hier eine große Vielfalt aber eins haben sie gemeinsam - sie alle übernehmen Verantwortung in der Gesellschaft. Und alle haben gemeinsame übergreifende Themen: Chancengerechtigkeit, Antidiskriminierung und gesellschaftliche Teilhabe.

"Wir sind ein aktiver Teil der Migrationsgesellschaft"

Eine aktuelle Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) schätzt, dass es zwischen 12.400 und 14.300 aktive Migrantenorganisationen gibt. Was sind die Vorteile von Migrantenorganisationen für die Zivilgesellschaft?

Steinbach: Migrantenorganisationen sind sehr vielfältig. Aber sie haben in ihrer Vielfalt auch Gemeinsamkeiten. Sie alle spiegeln die große Bandbreite des bürgerschaftlichen Engagements wieder, oft auch ehrenamtlich.

Beispielsweise bieten Migrantenorganisationen Beratungsarbeit und Orientierungshilfe für Geflüchtete und Zuwandernde. Einige bieten Wohlfahrtspflege oder Altentreffs. Wir sind auch vor Ort Teil der Zivilgesellschaft. Öffentliche Stellen verweisen auf uns: "Die können unterstützen." Wir sind ein aktiver Teil der Migrationsgesellschaft. Wir gestalten mit und übernehmen Verantwortung.

Migrantenorganisationen fungieren zudem als Ansprechpartner für die Politik und die öffentliche Hand. Je besser wir strukturiert und vernetzt sind, umso besser ist der Vertretungsanspruch für beide Seiten.

Die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen wurde vor drei Jahren begründet und hat rund 50 stimmberechtige Mitglieder. Was sind ihre Ziele?

Steinbach: Durch die Vernetzung können wir Wissen austauschen und weitergeben. Und so von den Stärken der anderen profitieren. Es ist aber auch ein Forum für Themen. Welche Agenda wollen wir setzen? Wir können zudem Informationen sammeln und in die Fläche bringen. In unserer Gesellschaft hat rund ein Viertel der Bevölkerung Migrationsgeschichte. Wir versuchen, deren Interessen abzubilden und die Themen, die in allen Communitys anstehen, gemeinsam weiterzutragen.
Zusammen sind wir eine starke Stimme. Das zeigt auch unser Logo: viele kleine Fische werden zusammen zu einem großen.

Das zentrale Gremium ist die Konferenz, die einmal im Jahr tagt. Dazu gibt es inhaltliche Arbeitsgruppen mit Themenschwerpunkten wie die Gruppe zum Partizipationsgesetz, zum Thema Empowerment oder zur Digitalisierung. Die Arbeitsgruppen kommen zwei bis drei Mal im Jahr zusammen. Außerdem gibt es einen Vertreterrat, der sich rund alle zwei Monate trifft und versucht, die Interessen in den politischen Prozessen einzubringen.

Unser Ziel ist es, dass wir unsere politische Sprachkraft noch weiter stärken. Wir brauchen eine nachhaltige Finanzierung, um unsere Strukturen noch besser auszubauen. Außerdem wollen wir uns noch besser vernetzen auf allen föderalen Ebenen.

Migration ist Herausforderung und Chance

Der Tag der Migranten stellt die Bedeutung der Migrantinnen und Migranten in den Vordergrund. Warum ist aus Ihrer Sicht ein solcher Tag wichtig?

Steinbach: Die Themen, die wir als Migrantenorganisationen vertreten, haben nicht nur mit Migration direkt zu tun: Rassismus ist beispielsweise nicht durch Menschen mit Migrationsgeschichte nach Deutschland gekommen. Und Diskriminierung betrifft nicht nur Menschen, die migriert sind, sondern auch solche, die selbst – oder deren Eltern schon in Deutschland geboren worden sind.

Wir leben in einer postmigrantischen Gesellschaft. Das heißt, die deutsche Gesellschaft ist durch die Erfahrungen der Migration geprägt – über viele Jahrhunderte hinweg. Auch das müssen wir uns immer bewusstmachen.

Ein Gedenktag wie der Tag der Migranten schafft Bewusstsein für eine Thematik. Er hebt hervor, dass Migration Normalität ist in Deutschland und auf der ganzen Welt – und dass diese nicht immer freiwillig ist. Migration gab es aber schon immer und wird es weitergeben. Sie bringt gesellschaftliche Herausforderungen mit sich und ist eine große Chance.