"Geflüchtete Frauen und Männer unterscheiden sich in ihren Lebensentwürfen" , Datum: 08.03.2021, Format: Meldung, Bereich: Behörde

Die Kurzanalysen 1|2021, 2|2021 und 3|2021 des Forschungszentrums des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) beleuchten, inwieweit Frauen und Männer mit Fluchterfahrung unterschiedliche Ausgangslagen und Rahmenbedingungen bei der gesellschaftlichen Teilhabe haben.

Wie sieht der Alltag von Frauen mit Fluchterfahrung in Deutschland aus? Unterscheiden sich die Lebensentwürfe junger Frauen und Männer mit Fluchterfahrung? Welche Hürden bestehen für geflüchtete Mütter beim Zugang zum Integrationskurs?
Antworten auf diese und weitere Fragen liefern die BAMF-Forscherinnen, Cristina de Paiva Lareiro, Wenke Niehues und Dr. Anna Tissot, im Interview.

Frau de Paiva Lareiro, in Ihrer Kurzanalyse beschäftigen Sie sich mit dem Freizeitverhalten und den sozialen Kontakten geflüchteter Frauen. Zu welchen Erkenntnissen sind Sie gekommen?

Eine Frau lächelt in die Kamera. Cristina de Paiva Lareiro Quelle: © BAMF

De Paiva Lareiro: Geflüchtete Frauen unterscheiden sich in ihrem Alltags- und Freizeitverhalten deutlich von geflüchteten Männern. Sie verbringen einen großen Teil ihrer täglichen Zeit mit Aufgaben rund um den Haushalt, wie etwa dem Erledigen von Hausarbeit oder der Betreuung von Kindern. Damit steht ihnen entsprechend weniger Zeit für Freizeitaktivitäten zur Verfügung: Sie treiben beispielsweise weniger Sport und besuchen auch weniger häufig Kultur- oder Sportveranstaltungen als geflüchtete Männer oder etwa Frauen ohne Migrationshintergrund. Des Weiteren pflegen geflüchtete Frauen weniger häufig Kontakte zu Deutschen als Männer mit Fluchthintergrund.
Bei allen Frauen lässt sich eine stärkere Familienorientierung als bei Männern feststellen und das unabhängig des Migrationshintergrundes. Bei geflüchteten Frauen ist die Orientierung am familiären Kontext jedoch etwas stärker ausgeprägt – mit Auswirkungen auf ihre Alltagsgestaltung. Dennoch zeigt sich, dass sich beispielsweise durch Kinder für die Frauen auch soziale Räume eröffnen, etwa in der Kita oder auf dem Spielplatz, in welchen sie mit ihren Mitmenschen in Kontakt kommen können.

In Ihrer Kurzanalyse haben Sie, Frau Niehues, den Fokus auf jüngere Geflüchtete zwischen 18 und 25 Jahre gelegt. Welche Unterschiede in Bezug auf die Geschlechter konnten Sie feststellen?

Niehues: Geschlechtsspezifische Lebensentwürfe zeigen sich bereits bei jüngeren geflüchteten Frauen: Während junge geflüchtete Männer vermehrt erwerbsorientiert sind, gründen geflüchtete Frauen bereits in jungen Jahren verstärkt Familien und kümmern sich um ihre Kinder. Dies unterscheidet sie auch von anderen jungen Frauen in Deutschland, die keine eigene Migrationserfahrungen aufweisen und im Alter von 18 bis 25 Jahren deutlich seltener eigene Kinder haben. Die starke Familienorientierung der jungen geflüchteten Frauen spiegelt sich ebenfalls in der Ausgestaltung ihres Alltags wider: Es fällt auf, dass junge geflüchteten Frauen mit Abstand die meiste Zeit mit der Kinderbetreuung verbringen. Sind sie erwerbstätig, reduziert sich ihre Zeit der Kinderbetreuung, bleibt allerdings dennoch höher als bei jungen geflüchteten Männern.
Dagegen verbringen junge geflüchtete Frauen und Männer ähnlich viel Zeit damit, Deutsch zu lernen – mit Freunden oder in einem Sprachkurs –, einzukaufen und Behördengänge zu erledigen.

Welche Rolle spielt der Spracherwerb für die Integration von geflüchteten Frauen?

Dr. Tissot: Ganz grundsätzlich ist das Erlernen der Sprache für alle Zugewanderten – so auch für Menschen mit Fluchterfahrung – sehr bedeutsam. Denn erst mit grundlegenden Sprachkenntnissen erscheinen eine Integration in Gesellschaft und Arbeit realistisch.
Für Frauen, besonders für Mütter, ist das Erlernen der deutschen Sprache auch deswegen wichtig, weil sie eine Multiplikatorrolle einnehmen und den Integrationsverlauf ihrer Kinder stark beeinflussen können.
Gleichzeitig sind aber vor allem Mütter mit größeren Herausforderungen bei der Integration und beim Spracherwerb konfrontiert. Sie weisen eine nachteilige Ausgangslage auf und haben aufgrund hoher Haushalts- und Betreuungspflichten weniger Möglichkeiten einer Erwerbsarbeit nachzugehen oder an Angeboten zum strukturierten Spracherwerb, wie dem Integrationskurs, teilzunehmen.

Frau Tissot, in Ihrer Studie gehen Sie speziell auf die Hürden von geflüchteten Müttern im Zugang zum Integrationskurs ein. Welchen Hürden sehen sich Mütter mit Fluchterfahrung gegenüber?

Eine Frau lächelt in die Kamera. Dr. Anna Tissot Quelle: © BAMF

Dr. Tissot: Mittlerweile ist belegt, dass geflüchtete Frauen seltener am Integrationskurs teilnehmen, wenn Kinder im vorschulischen Alter im Haushalt leben und betreut werden müssen. Die wohl bedeutsamste strukturelle Hürde ist der Mangel an Regelangeboten der Kinderbetreuung in den Kommunen und Landkreisen. Trotz Gesetzesanspruch erhalten viele geflüchtete Familien erst ab dem dritten oder sogar vierten Lebensjahr einen Betreuungsplatz für ihr Kind. Hinzu kommt die geographische Entfernung zwischen Wohnort und Integrationskurs bzw. Kinderbetreuung, welche sich als eine weitere strukturelle Hürde für die betroffenen Frauen zeigt. In strukturschwachen und ländlicheren Gegenden tritt dies nochmals verstärkt auf. Die Schwierigkeiten beim Zugang zum Integrationskurs können aber nicht ausschließlich durch strukturelle Hürden erklärt werden, sondern sie treten in Kombination mit individuell-familiären Hürden auf, wie etwa klassischen Rollenaufteilungen zwischen den (Ehe-)Partnern.