Salzgitter: Fliegende Fäuste, offene Arme , , Integrationsprojekt des Monats Oktober
Beim Boxclub Tigers trifft man sich beileibe nicht nur zum Boxen, sondern, zum Beispiel, auch zum Hausaufgaben machen. Das sozial-integrative Selbstverständnis des Vereins ist seinem nimmermüden Vorsitzenden zu verdanken und kommt gut an: Die Mitgliederzahl steigt. Ein aktuelles Vorhaben könnte einen weiteren Schub bringen.
Man kann die Eigenheiten dieses Boxclubs mit Schlagworten beschreiben wie Engagement, Kreativität, vernetztes Denken und Handeln. Aber treffender ist es, auf "Apo" Abdullah Kocer zu verweisen, den Vereinsvorsitzenden des BC Tigers Salzgitter. Apo ist der Kopf der Tigers, der Chef im Boxring und drumherum, der sich persönlich um fast alles kümmert, konzeptionell, aber auch praktisch. Er leitet selbst vier Trainingsgruppen, fährt mit den Kids zu den Turnieren, führt die Gespräche mit der Presse, den Eltern oder der Stadtverwaltung. Apo macht die Schlagworte lebendig und den Boxclub zu etwas Besonderem.
Kocer nennt den BC "meine Lebensaufgabe". Der 1974 geborene Sohn türkischer Eltern hat die Tigers 2008 gegründet, gemeinsam mit Arne Wilzarski, sein Kumpel seit Grundschultagen und stellvertretender Vorsitzende des Clubs. Aus anfänglich 25 Boxerinnen und Boxern sind bis heute rund 400 Aktive geworden, verteilt auf drei Abteilungen: das männlich dominierte Boxen, das weiblich geprägte Hiphop, das gemischte Kickboxen. Etwa 80 Prozent von ihnen sind Kinder und Jugendliche. Alle trainieren am gleichen Ort, alle zahlen den gleichen Beitrag.
Die Tür steht offen
Die Tigers sind nicht nur ein Boxclub, sondern auch eine soziale Einrichtung. "Wir wollen eine Anlaufstelle sein, über den Sport hinaus", sagt Kocer. Das ist seine Linie, das Besondere. Zwar bemühen sich nicht wenige der etwa 90.000 deutschen Sportvereine um gesellschaftliche Vielfalt. Aber selten reichen Einsatz und Offenheit so weit wie bei diesem Club, der seit 2010 Stützpunktverein von "Integration durch Sport" ist. Das Programm wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geförderten und vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) umgesetzt (siehe Kasten). Bei den Tigers treffen sich Menschen aus über zehn Herkunftsländern, etwa drei Viertel der Mitglieder haben eine Migrationsgeschichte. Der Club bietet Hilfe bei Hausaufgaben und Behördengängen an, organisiert Ausflüge aller Art und jedes Jahr ein vorweihnachtliches Fest der Kulturen. Er hat vor Kurzem Patenschaften für 40 Flüchtlinge übernommen, die beitragsfrei mit trainieren, und kooperiert schon lange mit der Jugendgerichtshilfe: Wer straffällig geworden ist, hat die Wahl zwischen Halle putzen und – Disziplin vorausgesetzt – Sport treiben.
Ein Sprung in die Zukunft
Die Tigers wachsen gegen den Trend bei Salzgitters Sportvereinen. Der Boxclub hat sich ein Standing erarbeitet in der Industriestadt, die von ihrer Zuwanderungsgeschichte geprägt ist. Damit begründet die Erste Stadträtin Christa Frenzel, die in der Stadtverwaltung auch für Integration zuständig ist, warum sie die Arbeit des Boxclubs für so wichtig hält: "Wir haben in Salzgitter viele Jugendliche mit Migrationshintergrund, und wir wissen, dass diese Zahl weiter steigen wird. Beim BC Tigers verschmelzen die unterschiedlichen Kulturen und Jugendkulturen."
So bekommt Kocer auch von der Stadt Unterstützung für sein großes Vorhaben. Das Wachstum der Tigers droht die Kapazität ihrer Halle zu sprengen, sie suchen ein neues Heim. Und mehr als das: Salzgitter soll einen "Integrationsstützpunkt" bekommen, in dem Sport und Freizeit, Betreuung und Beratung angeboten werden. Nach dem von Club und Stadt gemeinsam erdachten Plan wäre darin neben dem BC auch das Jugendamt vertreten, mit einer sozialpädagogischen Fachkraft, die etwa der Hausaufgabenhilfe des BC ein "professionell-fachliches Dach" verleihen könnte, so Frenzel.
Der Plan ist fortgeschritten: Die Stadtverwaltung hat Räumlichkeiten gefunden – die bisherige Aula einer Schule – und im Haushalt 2015 einen Betrag eingestellt. "Was aussteht, ist ein Projektbeschluss vom Stadtrat der Stadt Salzgitter"
, sagt Frenzel. "Den kann es erst geben, wenn die Baupläne weiter vorangeschritten sind."
Die Mühlen mahlen, obschon aus Sicht von Kocer eher langsam: "Ich würde am liebsten gleich loslegen."
Er hat so viel vor, spricht von Elterncafé und Kinderbetreuung, von Drogenprävention und neuen Sportkursen, von einem Ort "wo man hingeht, um ein bisschen Sport zu machen, etwas trinkt und redet – ähnlich wie ein Fitnesscenter, nur familiärer"
. Wie gesagt: Es ist seine Lebensaufgabe.
Text: Nicolas Richter