Gemeinsam ins Fußballvergnügen , Datum: 29.10.2019, Format: Meldung, Bereich: Integration , Beim Projekt "Stadionbegleitung" der Freiwilligenagentur Jugend-Soziales-Sport e.V. ermöglichen Migranten hilfebedürftigen Menschen mit Behinderung den Besuch eines Fußballspiels

Menschen mit Migrationshintergrund begleiten beim Projekt "Stadionbegleitung" der Freiwilligenagentur Jugend-Soziales-Sport e.V. Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung ehrenamtlich zu Heimspielen des Fußballvereins Eintracht Braunschweig.

Pass, Schuss und ... "Das runde Leder muss doch mal reingehen", sagt Waltraud Postler leise und schiebt sich die knapp schulterlangen, grau melierten Haare behutsam aus dem Gesicht. Aufrecht sitzt sie in einer der roten Sitzschalen des Blocks eins im Stadion. Ihr Blick ist auf das Spielfeld gerichtet. Die blau-gelb gekleideten Spieler des Fußballvereins Eintracht Braunschweig stehen an diesem Samstagnachmittag gegen die der Spielvereinigung Unterhaching auf dem Feld.

Natürlich sollen die Blau-Gelben gewinnen, da sind sich die Fans in Braunschweig einig. Waltraud Postler hält die Luft an. Der scharf geschossene Ball fliegt in Richtung Tor. Beifall brandet auf – Latte. Ein enttäuschtes "Oh" raunt es durch die Zuschauermenge. "Ich kann‘s gar nicht fassen. Was ist mit meinen Leuten los?", sagt auch die 65-Jährige enttäuscht.

Drei Personenlaufen vor einem Fußballstadion.Größer darstellen Ist das aufregend: Im schnellen Schritt machen sich Waltraud Postler, Thorsten Walter und Obaidullah Zaim auf den Weg zu ihren Plätzen (von links nach rechts). Quelle: BAMF | Krings

Alleine wäre ein Besuch unmöglich

Neben ihr sitzt ein junger Mann, Obaidullah Zaim. Ohne ihn würde sie heute nicht im Stadion sitzen. Denn alleine traut sich Waltraud Postler so einen aufregenden Ausflug nicht zu, obwohl sie seit vielen Jahren ein treuer Fan der Mannschaft ist. Sie ist geistig beeinträchtigt, lebt in einer betreuten Wohngruppe der Lebenshilfe Braunschweig e.V. Dass Obaidullah Zaim sie und ihren Mitbewohner Thorsten Walter heute von dort abgeholt hat und auch wieder hinbringen wird, ist dem neuen Projekt der Braunschweiger Freiwilligenagentur Jugend-Soziales-Sport e.V. zu verdanken.

Mit der Fußballsaison 2019/2020 ist im Rahmen des 2017 ins Leben gerufenen und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderten Projekts "Gut integriert durch ein Ehrenamt in Braunschweig" das Unterprojekt "Stadionbegleitung" angelaufen. Beide werden bei der Freiwilligenagentur von Matthias Bertram betreut. Der Antrag für "Gut integriert" wurde über den Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) gestellt, Kooperationspartner der Freiwilligenagentur ist der Braunschweiger Fanclub "Eintracht Inklusiv". Obaidullah Zaim ist einer von derzeit zwölf Aktiven, die Menschen mit körperlichem oder geistigem Handicap ins Braunschweiger Stadion begleiten – in seiner Freizeit, ehrenamtlich. Kostenlose Eintrittskarten für alle Ehrenamtlichen stellt der Fußballverein zur Verfügung.

Flucht vor Bedrohung und Verfolgung

"Ich liebe Fußball und spiele selbst sehr gerne", erzählt der 20-jährige Afghane. "Durch dieses Ehrenamt möchte ich etwas zurückgeben. Ich habe hier so viel Gutes erfahren." Vor etwas mehr als drei Jahren ist Obaidullah Zaim gemeinsam mit zwei älteren Geschwistern aus Afghanistan geflohen. Bedrohung, Verfolgung und sogar Mord waren dort gegen seine Familie gerichtet. Über einige Stationen ist er nach Braunschweig gekommen. Ein ehrenamtlich tätiger "Pate", vermittelt durch die Freiwilligenagentur, unterstützte ihn von Anfang an und half ihm, sich in der neuen Kultur zurechtzufinden. Obaidullah Zaim fühlt sich wohl in Deutschland, möchte gerne bleiben. Die Sprache spricht er mittlerweile fließend. Bald wird er eine Ausbildung zum Heizungsinstallateur beginnen.

Thorsten Walter, ein schmaler Mann mit fröhlichem Blick, fasst sanft an Obaidullah Zaims Arm – denn sprechen kann er nicht. Er ist so aufgeregt, dass er schon wieder zur Toilette muss. Obaidullah Zaim steht geduldig auf, hakt sich bei Thorsten Walter ein und hilft ihm hoch. "Wir kommen gleich wieder", sagt er dann zu Waltraud Postler. "Ja, ja", antwortet diese nebenbei. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt den Fußballspielern. "Nun schieß doch endlich!", ruft sie den Sportlern zu.

Ein Mann steht in einem Fußballstadion und lächelt in die Kamera.Größer darstellen Matthias Bertram leitet das Projekt „Stadionbegleitung“ bei der Freiwilligenagentur. Quelle: BAMF | Krings

Auswärtsspiele stehen auf dem Plan

Derzeit engagieren sich insgesamt zwölf Ehrenamtliche, davon sieben mit Migrationshintergrund, für Männer und Frauen mit Handicap. Das Ziel der "Stadionbegleitung" ist es, mehrere stabile Teams zu bilden, die alle zwei Wochen gemeinsam zu den Heimspielen von Eintracht Braunschweig gehen. Da das Projekt auf Seiten der ehrenamtlichen Begleiter und der Menschen mit Handicap auf sehr großes Interesse stößt, wird dies kein Problem sein. "Fernziel ist es, irgendwann auch die Auswärtsspiele zu besuchen – aber bis dahin wird wohl noch ein bisschen Zeit vergehen", erklärt Projektleiter Matthias Bertram.

Schon jetzt haben die Projektbeteiligten auch im heimischen Stadion viel Spaß – obwohl das Spiel nicht mit einem Sieg der Braunschweiger, sondern unentschieden zu Ende geht. Obaidullah Zaim, Thorsten Walter und Waltraud Postler genießen die Stadionatmosphäre und freuen sich schon auf das Wiedersehen. Dass es ein solches geben wird, ist sicher.

Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter Download und Links.

Das Projekt "Stadionbegleitung"

Sowohl für Geflüchtete und Neuzugewanderte als auch für Menschen mit Beeinträchtigun-gen bietet das Projekt "Stadionbegleitung" einen Mehrwert. Es ermöglicht beiden Seiten einen Besuch im Stadion von Eintracht Braunschweig, der sonst so nicht möglich wäre. Die ehrenamtlichen Geflüchteten und Neuzugewanderten erhalten kostenlos eine Eintrittskarte, können so deutsche Alltagskultur erfahren, ihre Netzwerke erweitern, deutsch sprechen und auch mit den Menschen mit Beeinträchtigung in Kontakt kommen. Diese wiederum erhalten die Chance, überhaupt ins Stadion zu gelangen und werden vor Ort betreut, können eventuelle Vorurteile abbauen und erfahren selbst Begegnungen.

Projektträger ist die Freiwilligenagentur Jugend Soziales Sport e.V. (Korporatives Mitglied der AWO). Das Projekt "Stadionbegleitung" ist im Juli 2019 als Unterprojekt von "Gut integriert durch ein Ehrenamt in Braunschweig" gestartet, das es seit 2017 gibt. Entwickelt wurde es gemeinsam mit dem Fanclub "Eintracht Inklusiv". In diesem Projekt engagieren sich Geflüchtete ehrenamtlich, das Angebot ist zwischenzeitlich auch für andere Gruppen geöffnet. Derzeit sind zwölf Ehrenamtliche beteiligt, davon sieben mit Migrationshintergrund.

Text: Sigrid Krings