Horizont erweitern, Kulturen kennenlernen , Datum: 20.12.2019, Format: Meldung, Bereich: Integration , Wenn Einheimische und Zugewanderte bei einer Tasse Kaffee miteinander reden, dann verwandeln sich viele Vorurteile ganz nebenbei in echtes Wissen.

Wie feiert ihr? Wie erzieht ihr eure Kinder? Was zieht ihr an? "Ich-Du-Wir: Nachbarn im Gespräch" - so heißt das Projekt des Vereins Diên Hông, bei dem Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen in Rostock und Umgebung zusammenkommen.

Es geht nicht um Krieg und Verfolgung, nicht um Kriminalität oder grundlegende Glaubensfragen. Wenn die Frauen zum Gesprächskreis zusammenkommen, dann reden sie über Alltagsthemen aus ihrem eigenen Leben. Shoula, Regine, Meryem, Margret, Irina… sie sind eine bunt gemischte Runde. Shoula Khouja aus Syrien trägt einen langen schwarzen Rock, ein graues Kopftuch und dazu einen leuchtend rot gemusterten Strickpullover. Direkt neben ihr sitzt die Tunesierin Meryem Benlhaj in engen Leggins, mit rot gefärbtem, langem Haar und großen, goldenen Kreolen in den Ohren. Einige Teilnehmerinnen sind gerade mal 20 Jahre alt, andere, wie die Großhandelskauffrau Margret Moddelmog, haben ihre Rente schon erreicht. Im Mehrgenerationenhaus der 1.800 Einwohner zählenden Gemeinde Gelbensande, etwa 22 Kilometer nordöstlich von Rostock, trifft sich der Gesprächskreis seit Jahresanfang in unregelmäßigen Abständen. Das Thema heute: "Weihnachten und Familienfeste weltweit".

"Vom Ich und Du zum Wir"

Der Gesprächskreis in Gelbensande ist Teil des Projekts "Ich-Du-Wir: Nachbarn im Gespräch" des Vereins "Diên Hông - Gemeinsam unter einem Dach". Gefördert wird das gemeinwesenorientierte Projekt seit 1. November 2018 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. "Einheimische und zugewanderte Nachbarn sollen sich jenseits der Helferkontexte begegnen und Erfahrungen aus ihrem Leben austauschen", erklärt Projektkoordinatorin Martina Koch das Ziel. Über das Entdecken von Gemeinsamkeiten und Unterschieden sollen die Perspektiven des Miteinanders reflektiert werden. "Vom Ich und Du zum Wir." Die Gesprächskreise und gemeinsame Aktionen bieten Raum für einen Austausch, bei dem Menschen entdecken können, was sie verbindet. Das Projekt richtet sich an Einheimische und Zugewanderte in Rostock und im Landkreis Rostock – mit Schwerpunkten in Bad Doberan, Güstrow und Gelbensande.

Sechs Frauen sitzen im Gesprächskreis. Die Frauen im Gesprächskreis haben in ihren Leben unterschiedlichste Erfahrungen gemacht. Und zugleich gibt es viele Gemeinsamkeiten. Quelle: BAMF | Bülow

Als Moderatorin Inna Kirsanova in die Runde fragt, welche Feste es in den verschiedenen Ländern gibt, spielt das christliche Fest der Liebe eher eine Nebenrolle. Shoula kommt spontan ein ganz anderes Ereignis in den Sinn: "Abitur! Das ist ganz wichtig." Während ihr Margret und Regine fragende Blicke zuwerfen, erzählen die Syrerinnen sofort fröhlich durcheinander. Meryem, die zwar selber Migrantin ist, zugleich aber schon sehr gut Deutsch spricht, springt als Sprachmittlerin ein. "In Syrien wird das richtig groß gefeiert." Sobald eine Familie die Prüfungsergebnisse erfährt, werde von den Frauen ein fröhlicher Sprechgesang angestimmt, worauf andere mit hellen Trillerlauten antworten. Wie das klingt? Die Syrerinnen kichern, schließlich trauen sich Shoula und Hasnaa Hasira, den traditionellen Gesang aus ihrer Heimat vorzuführen.

Geburtstag, Hochzeit, Muttertag… jede hat irgendetwas zu erzählen, und immer wieder gibt es große Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten. Meryem findet den Frauentag wichtig, weil dann im Fernsehen daran erinnert wird, dass die erste Pilotin und die erste Frau bei der NASA Tunesierinnen waren. Irina Beljakova erinnert sich an die Geschenke, die sie in Russland früher zum Frauentag am 8. März bekommen hat, und spottet: "Ein Tag im Jahr bist du Frau, sonst Putzfrau." Alle lachen – es gibt viele ähnliche Erfahrungen. Regine Staiger, die im Mehrgenerationenhaus auch als Migrationsberaterin arbeitet, schildert aus ihrer deutschen Sicht ein syrisches Fest, bei dem der erste Babyzahn gefeiert wird. "Die Männer haben alles aufgebaut und geschmückt, danach sind sie wieder verschwunden." Anschließend seien die Frauen gekommen, hätten die Vorhänge zugezogen, einen etwa halbjährigen Jungen in Anzug und Fliege auf seinen Hochstuhl gesetzt und fröhlich getanzt. Regine war eingeladen und ist fasziniert: "Als alles vorbei war, sind wieder die Männer gekommen und haben aufgeräumt."

"Die Gesprächskreise sind eine gute Möglichkeit, auch mal Fragen zu stellen, die man sich sonst nicht zu fragen traut", sagt Moderatorin Inna Kirsanova. Beim ersten Treffen zum Beispiel, als es um Kleidung ging und einige Teilnehmerinnen sich erkundigten, was eigentlich FKK ist und warum man so etwas macht. Eine Schwierigkeit: Zunächst waren die Migrantinnen bei den Gesprächskreisen fast unter sich, deutsche Frauen kamen nur vereinzelt. Das habe sich zum Glück verändert. Eine, die ursprünglich nur zum Töpfern ins Mehrgenerationenhaus gekommen ist, ist die Gelbensanderin Margret Moddelmog. Durch Zufall lernte sie die Nachbarinnen aus dem Gesprächskreis kennen und ist heute begeistert: "Man erweitert seinen Horizont, lernt Kulturen kennen, mit denen man sonst nichts zu tun hätte." Hasnaa, die aus Damaskus in die kleine mecklenburgische Gemeinde gekommen ist, ergänzt: "Hier hat man ganz leicht Kontakt" - was im Alltag sonst nicht immer der Fall sei. Und die Treffen seien zudem gut für die Sprache.

"Die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund in unsere Gesellschaft lebt vom Verständnis füreinander", erklärt Projektkoordinatorin Koch. "In Begegnungen auf Augenhöhe kann dieses Verständnis wachsen." Die Gesprächskreise bieten hierfür den Raum.

Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter Download und Links.

Text: Katja Bülow