Miteinander statt übereinander reden – Dialog auf Augenhöhe , Datum: 07.01.2020, Format: Meldung, Bereich: Integration

Ein erfolgreicher Wertedialog braucht Begegnungen auf Augenhöhe. Die Iranische Gemeinde in Deutschland will mit dem Projekt "Deine Werte. Meine Werte. Unsere Werte" neue und alteingesessene Mitglieder der Gesellschaft ins Gespräch miteinander bringen.

Als er ein Kind war, hat Faisal Hamdos Mutter immer eine für ihn besondere Hautcreme aus Deutschland benutzt. Nie hätte er gedacht, dass ihn ein Krieg in das Land dieser Creme führen würde. 2014 musste Hamdo aus Syrien flüchten. Seither lebt der Physiotherapeut und Autor in Hamburg, nur wenige Minuten von der Produktionsstätte entfernt. "Früher hat mich die Creme genervt. Heute erinnert mich der Duft an meine Mutter."

Es ist ein kalter, sonniger Tag im brandenburgischen Bernau. Hamdo ist Gast in der Christlich- Missionarischen Gemeinschaft und liest im Erzählsalon aus seinem Buch "Fern von Aleppo" – eine Veranstaltung im Rahmen des Projekts "Deine Werte. Meine Werte. Unsere Werte" der Iranischen Gemeinde in Deutschland e. V. (IGD). Dies ist bereits der dritte Erzählsalon seit dem Start des Projekts. Ziel hierbei ist eine offene Wertedebatte zwischen Geflüchteten, Migrantinnen und Migranten sowie der Mehrheitsgesellschaft. Diese Debatte gestaltet das Projekt sehr vielfältig. Ob World Café, Gesprächsprogramm oder eine Wanderung durch die Dübener Heide, der Wertedialog steht im Vordergrund.

"Damit das gelingt, möchten wir miteinander statt übereinander reden", erklärt Dirk Tröndle, Geschäftsführer der IGD. "Wir suchen den Dialog auf Augenhöhe, statt zu versuchen, einseitig Werte zu vermitteln." Bei dem Projekt, das seit Mai vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gefördert wird, ginge es auch darum, voneinander zu lernen. Und es geht weniger um die abstrakte Werte wie Rechtsstaatlichkeit, sondern mehr um Universelle wie Familie oder Solidarität. Daher findet die Veranstaltung in der Form des sogenannten "Fishbowls" statt. Anders als bei einer klassischen Diskussionsveranstaltung ist das Publikum mit einem "Gast-Stuhl" eingeladen, gleich zu Beginn am Dialog teilzunehmen. Der Vorteil: "Die Menschen können sich jederzeit auf den freien Stuhl setzen und mitdiskutieren."

Eine Frau und zwei Männer sitzen auf Stühlen. Beim Fishbowl Prinzip müssen die Gäste nicht bis zum Schluss der Lesung warten, sie können sich einfach auf den freien Stuhl setzen und mitdiskutieren. Von links nach rechts: Faisal Hamdo, Diana Sandler, Dirk Tröndle. Quelle: BAMF | Canset İçpınar

Heimat ist Arbeit, Heimat sind Kinder

Hamdo und die Gäste kommen schnell ins Gespräch. Über Nachbarschaft, Alter und Heimat – ein Begriff, der oft für Kontroversen sorgt. Auch in dieser Runde wird er divers diskutiert. "Inzwischen wissen wir, dass es multiple Heimaten und Identitäten geben kann", sagt Tröndle.

Als seine Brüder aus Syrien zu ihm zogen und er begann zu arbeiten, sei Hamburg für den 30-jährigen Hamdo zu einer zweiten Heimat geworden. "Das Gefühl, die Gesellschaft mitzugestalten" sei ein wesentlicher Aspekt. Diana Sandler, Vorsitzende und Geschäftsführerin des Migrations- und Integrationsrats Land Brandenburg (MIR), der Jüdischen Gemeinde in Barnim und des Zentrums gegen Antisemitismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit Land Brandenburg (ZGA), hat eine andere Perspektive. "Als wir nach Deutschland kamen, gab es nicht sofort Arbeit für uns, aber wir haben trotzdem eine Heimat gefunden", sagt die dreifache Mutter. Mitte der 1990er Jahre migrierte die 50-Jährige mit ihrer Familie aus der Ukraine. Sie gründete die Jüdische Gemeinde in Barnim und ist seither zivilgesellschaftlich engagiert. Für Sandler ist aber nicht Arbeit, sondern Familie der Schlüssel, um sich wohl zu fühlen: "Heimat ist dort, wo deine Kinder eine Heimat finden."

Blick vom Publikum aus auf den Autor. Das Publikum lauscht interessiert den Erzählungen von Autor Faisal Hamdo. Quelle: BAMF | Canset İçpınar

Der König der Wüste

Es folgen Geschichten über Hamdos Erfahrungen als Altenpfleger. "Ich war erstaunt über die vielen Heime. In Syrien kannte ich nur vier." Als Hamdos Großvater dement wurde, sei klar gewesen, dass er aus seinem Wüstendorf zu ihnen nach Aleppo ziehe. "Er bekam alles was er wollte – wie ein König."

Das Thema Alter trifft einen Nerv bei den älteren und jüngeren unter den knapp zwei Dutzend Gästen. Wilfried Schindler, Vorsitzender und Pastor der Gemeinde sagt, dass nicht selten "Haustiere ein Ersatz für Kinder" seien, um der Einsamkeit im Alter zu entgehen. Für den 25-jährigen Studenten Michael Sandler ist die Vernachlässigung älterer Menschen eine Folge der individualisierten Gesellschaft: "Mit fortschreitender Technologisierung haben die Menschen das Gefühl, sie bräuchten niemanden."

Der demografische Wandel zeigt das Gegenteil: Menschen brauchen Menschen. Hamdo betont an dieser Stelle, mit welcher Fachkompetenz Ältere in Deutschland betreut werden. "Wir wussten nicht, dass mein Opa Demenz hat und dachten, im Alter ist man eben durch den Wind." Daher wünscht er sich eine Mischung aus beiden Kulturen, die Fachkompetenz und familiäre Fürsorge vereint.

Den Dialog hierzu will der 2010 in Berlin gegründete Verein IGD forcieren. Im kommenden Jahr sind im Rahmen des Projekts "Deine Werte. Meine Werte. Unsere Werte" bundesweit ein halbes Dutzend weiterer Diskussionsrunden und Streitgespräche geplant. Wie dieser Erzählsalon zeigt: Menschen können Werte teilen. Und Werte können sich entwickeln. Ähnlich wie aus Hamdos Erinnerungen an die Creme für seine Mutter ein Gefühl für Heimat und Familie entstand.

Weitere Informationen zum Projekt finden Sie unter Download und Links.

Text: Canset İçpınar

Das Projekt "Deine Werte – Meine Werte – Unsere Werte"

Im Fokus des Projektes steht die offene Wertedebatte zwischen Menschen mit Migrationshintergrund, Zugewanderten und der Aufnahmegesellschaft. Werte wie Familie, Gesellschaft oder Solidarität besitzen einen universellen Charakter und werden unabhängig von der Herkunft von vielen Menschen als wichtig empfunden. Die Definition gemeinsamer Werte oder die Bildung eines gemeinsamen Wertekanons wird als Grundlage des Zusammenlebens und des gesellschaftlichen Zusammenhalts gesehen und wird im Projekt umgesetzt.

Projektträger ist die iranische Gemeinde in Deutschland e.V. (IGD). Das Projekt "Deine Werte – Meine Werte – Unsere Werte" ist im Mai 2019 Jahres gestartet und findet schwerpunktmäßig in Berlin und Brandenburg statt. Verschiedene Maßnahmen wie Diskussionsveranstaltungen oder Erzählsalons bieten hierfür das Format.