"Sport hat mein Leben verändert" , Datum: 24.07.2020, Format: Meldung, Bereich: Integration

Wael Shueb (32) war für das IOC-Flüchtlingsteam bei den Olympischen Spiele 2020 nominiert, die am 24. Juli in Japan beginnen sollten. Nun hofft der syrische Geflüchtete auf die Erfüllung seines Traums im nächsten Jahr.

Wael Shueb hat einen positiven Blick auf das Leben. Wenn ihm etwas Schlechtes widerfährt oder er enttäuscht wird, dann schaut er einfach, welche Chancen dennoch darin stecken. Eigentlich war der 32-jährige Syrer bei den Olympischen Spielen in Japan, die am 24. Juli 2020 starten sollten, für das Flüchtlingsteam des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) nominiert gewesen. Seine Sportart: Karate. Nun ist Covid19-bedingt alles ein wenig anders, die Spiele und die endgültige Nominierung sind auf Sommer 2021 verlegt worden. "Aber ich hatte so mehr Zeit zum Lernen", sagt er gelassen. Die Abschlussprüfungen zum Sport- und Fitnesskaufmann hat er nun erfolgreich gemeistert. "Und dann hoffe ich eben im nächsten Jahr dabei zu sein, um meinen Traum zu erfüllen." Dazu gekommen ist es, weil er auf eine Veranstaltung des vom Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (BMI) und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderten Programms "Integration durch Sport" (IdS) aufmerksam wurde – und nun in einem von dessen Stützpunktvereinen Kinder und Erwachsene trainiert.

Als Wael Shueb 2015 nach Deutschland gekommen ist, hatte er einiges hinter sich. Während seiner Flucht über den Balkan wurde der Syrer überfallen und schwer verletzt. Er schaffte es schließlich über die deutsche Grenze. Ein Polizist ließ ihn sofort ins Krankenhaus bringen. Hier verbrachte er die ersten zehn Tage in dem Land, das er heute seine Heimat nennt. "Ich habe in Deutschland zum ersten Mal Sicherheit erlebt", sagt er. "Und ich habe mir gedacht, hier kann ich eine Zukunft aufbauen." Wie genau diese aussehen sollte, das wusste Shueb damals noch nicht. Aber er war sich sicher: "Ich wollte irgendwie wieder Karate machen."

Zitat

So wie Sport mir geholfen hat, möchte ich nun Menschen helfen und zeigen, was in ihnen steckt.
Wael Shueb

Bereits in Syrien war er in diesem Sport sehr erfolgreich. Er arbeitete sich hoch vom Stadtkader zum Nationalkader – und nahm 2010 für Syrien an der Weltmeisterschaft in Belgrad teil. So ging er, angekommen im hessischen Neu-Anspach, auch direkt ins Rathaus, da es dort ein Büro für Sport gibt. "Da habe ich gesagt, dass ich Sportler bin. Die Frau dort schrieb sich das auf – und hat mich einen Monat später angerufen." Sie informierte ihn über eine Veranstaltung des vom BMI und BAMF geförderten Programms "IdS" des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB).

Dort lernte er den Gründer des Kampfsportvereins "Lotus Eppertshausen", Ernes Erko Kalač, kennen. "Er sagte: ‚Komm nächste Woche vorbei.‘" Und so begann der syrische Sportler, obwohl er damals kaum Deutsch konnte und Neu-Anspach und Eppertshausen rund 50 Kilometer auseinanderliegen, regelmäßig Kinder und Erwachsene im Karate zu unterrichten. Die Distanz überwand Shueb mit Öffentlichen Verkehrsmittel, die Sprachbarriere durch Deutschlernen. "Ich habe mir viele Youtube-Videos auf Deutsch angesehen", sagt er. Und natürlich habe er von seinen Schülerinnen und Schülern viel gelernt. Bei einem Einstufungstest zum Integrationskurs konnte er schon direkt mit dem Sprachniveau A2 (Grundlegende Kenntnisse) anfangen – und mit B2 (Selbstständige Sprachverwendung) abschließen. Wenn der 32-jährige heute redet, hört man zwar einen Akzent, aber er spricht fließend und sprachgewandt.

"Es ist nie eine einfache Entscheidung für Menschen, ihr Land zu verlassen"

Als Shueb ein Kind war, da habe er gerne Kampfsportfilme mit Schauspielern wie Bruce Lee geschaut – blickt der heute durchtrainierte Mann auf seine sportlichen Anfänge zurück. "Da habe ich meinem Vater gesagt, ich will Karate machen." Elf oder zwölf Jahre sei er da damals gewesen, erinnert Shueb sich. "Mein Vater hat aber gesagt: ‚Nein, das ist zu schwer.‘" Da habe Shueb einfach für sich zu Hause geübt – bis sein Vater nachgab und ihn im Verein anmeldete. Nach Wettkämpfen fragte er dann immer die Zuschauer, was sie gut oder weniger gut fanden. "So konnte ich meine Technik verbessern."

Mit 18 machte Shueb Abitur, leistete seinen Wehrdienst und begann danach in einer Textilfabrik zu arbeiten. Nebenbei wurde er immer erfolgreicher in seinem Sport. Das ging so lange gut, bis Krieg in Syrien ausbrach. Shueb verlor seine Arbeit und versuchte sich anderswo ein Leben aufzubauen. Das Leben, das er in Syrien vor Augen hatte, "war unmenschlich", fasst er zusammen. Nach Stationen im Libanon und Ägypten ging er in die Türkei und verdingte sich als Tagelöhner. Dann traf er eine Entscheidung. Er wollte weg, irgendwohin, wo er eine Chance für sich sah. "Es war wie ein Lottospiel. Entweder gewinne ich mein Leben oder ich verliere es", fasst er seine damaligen Gedanken zusammen. Und so begab er sich auf die Balkan-Route.

"Es ist nie eine einfache Entscheidung für Menschen, ihr Land zu verlassen", sagt der Mann mit den dunklen Augen und dem dunklen, vollen Haar. "Man kommt nicht einfach so auf diese Idee. Und auch diese Menschen können etwas erreichen." Daher sei es eine sehr gute Sache, dass es das olympische Team für Flüchtlinge gibt. Als Shueb die Nachricht bekam, dass er bei der Olympiade dabei sein könnte, "war das ein Moment, den kann ich nicht beschreiben." Karate sollte 2020 zum ersten Mal als olympische Disziplin dabei sein. Und er, ein geflüchteter Sportler aus Syrien bekam die Chance dabei sein zu dürfen – noch dazu in Japan, dem Mutterland seines Sports. Der Gründer des Kampsportvereins "Lotus Eppershausen", Kalač, vermittelte ihm diese Möglichkeit. Schon 2016 durfte Shueb im Flüchtlingsteam der World Karate Federation bei der Weltmeisterschaft im österreichischen Linz mit dabei sein.

"Man muss schauen, worin man gut ist und sich dort einbringen. Für mich war das der Sport."

Durch den Verein gewann er nicht nur einen Mentor, der ihn sportlich förderte, sondern auch einen Freund. Die Entscheidung, eine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann zu machen, hätte er sicher ohne dessen Unterstützung nicht getroffen. "Sport hat mein Leben verändert", davon ist Shueb überzeugt. Und er hat einen Ratschlag für alle, die ihre Heimat verlassen und irgendwo neu anfangen müssen: "Man muss schauen, worin man gut ist und sich dort einbringen. Für mich war das der Sport." Es könne aber auch ein anderes Talent oder Hobby sein, etwa Musik. Oder der Beruf. "Und dann muss man rausgehen und mit den Menschen reden. Das ist am Anfang schwierig. Aber man muss es einfach versuchen."

Shueb blickt in die Zukunft. Der Traum von Olympia in Japan ist zwar vorerst aufgeschoben, aber dennoch im kommenden Jahr greifbar. Die nächste Zeit wird für ihn daher durch das Training und die Vorbereitung auf die Spiele bestimmt sein – zusätzlich zum Ankommen in seinen Beruf. Die Arbeit als Fitnesstrainer macht ihm großen Spaß. Irgendwann möchte Shueb eine Familie haben – und er möchte eine Karateschule aufbauen. Die Chance, die er in Deutschland bekommen hat, möchte er weitertragen und etwas Positives aus seinen Erfahrungen machen. "Ich kann meinen Sport weitergeben. So wie dieser mir geholfen hat, möchte ich nun Menschen helfen und ihnen zeigen, was ihnen steckt."