"Speedtalking" für eine starke Gesellschaft , Datum: 16.10.2020, Format: Meldung, Bereich: Integration

"Wie stellst du dir eine gute Nachbarschaft vor?", Dominik Lechner liest Iqbal Azhar diese soeben gewürfelte Frage vor. Beide machen bei "Speedtalking" mit - eine Veranstaltung des Projekts "GoRegional", das der Verein "Starkmacher e.V." konzipiert und durchführt. Gefördert wird das Projekt durch das Bundesamt. Schwerpunkte sind Demokratie, zivilgesellschaftliches Engagement und Teilhabe an der Gemeinschaft.

Ruhig liegt der Würfel in der schmalen Hand. Er ist groß, aber leicht. Aus buntem Papier gebastelt. Die Seiten cremerot, sonnengelb, taubenblau. Darauf Fragen sorgfältig handschriftlich notiert. Als der Würfel aus der Hand auf den Boden fällt, kullert er auf die Frage: "Wie stellst du dir eine gute Nachbarschaft vor?" Dominik Lechner liest Iqbal Azhar die Frage vor.

Die beiden machen bei der Aktion "Speedtalking" mit. Sie findet auf dem großen Rathausplatz in Edingen-Neckarhausen statt. Es ist eine Veranstaltung des Projekts "GoRegional", das der Verein "Starkmacher e.V." konzipiert und durchführt, gefördert durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat (BMI). Schwerpunkte des Projektes sind: Demokratie, zivilgesellschaftliches Engagement und Teilhabe an der Gemeinschaft. Zielgruppe sind Jugendliche, mit und ohne Migrationshintergrund, mit Fluchterfahrung, mit und ohne Handicap.

Speedtalking: eine Minute – ein Gespräch – der Beginn einer Bekanntschaft

Dominik Lechner, ein Mitglied des Teams vom Starkmacher e.V., sitzt auf einer der Parkbänke. Ihm gegenüber – Iqbal Azhar. Iqbal kommt aus Pakistan und ist seit fünf Jahren in Deutschland. Er ist der Gesprächspartner von Dominik Lechner in dieser Runde. Eine Minute haben sie Zeit, Fragen zu würfeln, sich auszutauschen, ins Gespräch zu kommen. "Wenn du eine gute Nachbarschaft hast, ist dein Leben einfach", sagt Iqbal. Er spricht zurückhaltend. "Ich kenne meine Nachbarn gut. Manchmal gehe ich mit ihnen nach draußen oder wir essen zusammen. Sie haben mir auch schon geholfen."

Nun ist Dominik an der Reihe "Für mich ist gute Nachbarschaft, dass ich hinterfrage, welche Vorstellungen meine Nachbarn haben. Dass ich auf ihre Bedürfnisse achte. Tolerant anderen gegenüber bin." Er sieht kurz in die Ferne und fügt hinzu: "Dass ich auf sie zugehe und einen Weg finde, damit wir in Harmonie zusammenleben können." Ins Gespräch kommen. Mit Menschen, mit denen man sich sonst nie unterhalten hätte. Das ist das Ziel des Speedtalkings. Es soll Menschen aus verschiedenen Berufen, Schichten, Lebenswelten zusammenbringen. Eine Stunde zuvor baut Maria Landricina, Leiterin des Projekts GoRegional, das Speedtalking auf. Füllt Stifte in Gläser, stellt Pinnwände auf, stellt Desinfektionsmittel bereit.

Über die großen Fragen der Gesellschaft diskutieren – via Internet

Eine der Teilnehmenden des Projekts ist Celine Bartmann. 18 Jahre alt, lange rotbraune Haare, dunkelgrauer Kapuzenpulli. Sie steht an einer der Pinnwände und fischt spitze Stecknadeln aus einer Plastikbox. Dabei erzählt sie von den virtuellen Treffen, die dem Speedtalking vorangegangen sind. Immer dienstags, immer abends, zehn Wochen lang. Gemeinsam haben sie sich die Frage gestellt, wie sie die Nachbarschaft, die Gemeinschaft verbessern können. Was der Gesellschaft fehlt? Da waren Begriffe wie Friedlichkeit, Respekt, Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit, Verantwortung.

Verantwortung – das war das Wort, das Feras Ghannam, einen weiteren Teilnehmer des Projekts von GoRegional, dazu inspiriert hat, einen Comic zu zeichnen. "Wir haben diskutiert, was unsere innere kritische Stimme zum Thema Verantwortung sagt und versucht, die verschiedenen Facetten von Verantwortung zu klären", erklärt er. In Syrien hat er im Bereich Grafikdesign gearbeitet. In Deutschland arbeitet er nun in der Logistik. Nebenbei macht er ein Fernstudium im Comiczeichnen. "Ich bin den tollen Leuten vom Verein Starkmacher dankbar. Das Projekt hat mir sehr geholfen."

Gespräche – das Band, das Menschen verbindet

Die Jugendlichen haben bei den virtuellen Treffen viele Gespräche geführt und über ernste Themen geredet. Offen. Ehrlich. Tiefgründig. Spielerisch haben sie gelernt, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Für sich selbst, für die Gruppe. Als Bausteine: Gemeinschaft und Vertrauen. Als Fundament: demokratische Prinzipien und Strukturen. Als Werkzeug: Elemente aus der Theaterpädagogik.

Celine pikst die Stecknadeln in die Pinnwand. Ob sie durch dieses Projekt etwas gelernt habe? "Ja klar", sagt sie und nickt. Sie reflektiere sich selbst. Wie sie von Menschen wahrgenommen werde und wie sie sich selbst anderen gegenüber verhalte. "Ich habe mir vorgenommen, ´Hallo´ zu sagen, wenn ich an jemandem vorbeilaufe. Es sind die kleinen Sachen, die die Menschheit verändern."

In den letzten drei virtuellen Treffen kam den Jugendlichen die Idee, den digitalen Workshop mit einem Praxisprojekt abzuschließen. Dieses eigenständig zu organisieren und sich als Puzzleteil der Gemeinschaft zu erleben. Mit einem Speedtalking mit Passanten, mitten in Edingen. "Die Idee des Speedtalkings: Menschen, die im eigenen Umfeld leben, besser kennenlernen, um im Alltag keine Vorurteile zu haben, sondern offener, hilfsbereiter und respektvoller miteinander umzugehen", erklärt Maria Landricina.

Inklusiv. Integrativ. Normal.

Philipp Ross ist zwanzig Jahre alt, hat kurze blonde Haare und ist ebenfalls ein Teilnehmer des Projekts GoRegional. Er sitzt hinter einem grauen Tisch am Eingangs-Pavillon auf dem Rathausplatz. Vor dem Speedtalking sortiert er die Unterlagen. Hygienebestimmungen, Teilnehmerliste, Informationen. Eifrig ist er, geschäftig, stolz. "Ich bin durch das Projekt selbstständiger geworden. Ich habe gelernt zu planen", sagt er. Philipp Ross hat Trisomie 21. Menschen mit Handicap, ohne Handicap, mit Migrationshintergrund, ohne Migrationshintergrund. Alle haben Platz in diesem Projekt. Es ist nichts Außergewöhnliches. Nichts, was herausgestellt, betont wird. "Es ist ganz normal", sagt Kollegin Celine. Die Jugendlichen arbeiten miteinander. Auf Augenhöhe. Jeder ist wichtig. Jeder hat seine Aufgabe. Es ist ein Projekt, das verbindet.

So wie bei Iqbal Azahr und Dominik Lechner. Iqbal erzählt ihm, dass er jemanden sucht, der ihm Nachhilfe beim Deutschlernen gibt. Im Juli hat er seine Ausbildung begonnen. In einer Firma, die sich mit E-Bikes beschäftigt. "Ich hoffe, dass ich dir helfen kann", sagt Dominik. Er wird versuchen, Leute in seinem Netzwerk zu finden. Dominik gibt Iqbal seine Telefonnummer. Der Würfel kommt ins Rollen.

Text: Ronja Goj

Zum Projekträger Starkmacher e.V.

Das Projekt GoRegional des Projekträgers Starkmacher e.V. will Jugendliche, mit und ohne Migrationshintergrund, mit Fluchterfahrung, mit und ohne Handicap in Austausch und Diskussion bringen, für Themen wie politische Bildung und Demokratiebildung sensibilisieren sowie zivilgesellschaftliches Engagement dadurch erlebbar machen.

Das Bildungsprogramm bietet theater-und erlebnispädagogische Aktivitäten an und entwickelt gemeinsam mit Jugendlichen ein Projekt, bei dem sie Teilhabe praktisch erfahren. GoRegional möchte junge Menschen ermutigen, die Gesellschaft in ihrem lokalen Umfeld aktiv mitzugestalten.

Weitere Informationen zum Projekträger Starkmacher e.V. finden Interessierte unter "Links".